Bis heute harren noch immer Tausende ehemalige Ortskräfte in Afghanistan aus, leben in Angst, verstecken sich vor Folter und Morden der Taliban. Für Tausende Menschen hätte das verhindert werden können, wenn die Verantwortlichen auf die frühen Warnungen und Vorschläge von Menschrechtsorganisationen wie PRO ASYL gehört hätten. Die alte Bundesregierung hat damals versagt, und auch die neue tut bis heute viel zu wenig, um alle Menschen, die in Afghanistan für deutsche Stellen gearbeitet haben, endlich in Sicherheit zu bringen.
Taliban misshandeln ehemalige Ortskräfte
Mit diesem Verhalten bringt die Bundesregierung Menschen in Lebensgefahr. Vom Leiden zweier Menschen, die für ein Polizeiprojekt der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben und dennoch keine Aufnahmezusage erhalten haben, berichtet Rechtsanwalt Matthias Lehnert im Interview mit PRO ASYL. »Ich vertrete zum Beispiel eine Person, dessen Familie bereits kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban im Juli zuhause überfallen und misshandelt worden war. Später haben sie meinen Mandaten acht Stunden lang an einen Baum aufgehängt und ihm mehrere Knochen gebrochen. Sie sagten zu ihm, er habe gesündigt, weil er mit den Deutschen zusammengearbeitet hat.
Ein anderer Mandant von mir hat mehrfach Drohbriefe von den Taliban erhalten und sie haben sein Haus verwüstet auf der Suche nach Informationen über die GIZ. Bei einem dieser »Besuche« war er nicht zuhause – aber sein Bruder wurde ermordet, weil er nicht preisgeben wollte, wo der »Kollaborateur mit den Deutschen« sich aufhält.« Das sind nur zwei Beispiele von viel zu vielen Frauen und Männern, die verfolgt werden.
Regierung muss Ortskräfte-Definition erweitern!
Dabei wollte die Ampelkoalition es anders machen als die Große Koalition. Im Koalitionsvertrag (Seite 113) steht: »Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. … Deswegen werden wir das Ortskräfteverfahren so reformieren, dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen.«
Doch davon ist noch nichts zu spüren. Eine Reform der Definition, wer als Ortskraft gilt, und die dringend notwendige Ausweitung auch auf Subunternehmer*innen, die beispielsweise bei der deutschen GIZ tätig waren, wurden noch nicht mal im Ansatz angegangen. Das Gegenteil geschieht: Das Auswärtige Amt holt zwar nach und nach Ortskräfte aus Afghanistan. Doch eine Erweiterung der Definition, wer eine Ortskraft ist, scheint nicht geplant zu sein, wie aus Aussagen von Außenministerin Annalena Baerbock am 23. Juni zur Halbjahresbilanz ihres »Aktionsplans Afghanistan« hervorgeht. Demnach geht es nur um »besondere Härtefälle«, die vielleicht noch mit auf die Liste kommen, nicht aber um eine grundsätzliche Erweiterung.
Ortskräfte klagen gegen die Bundesregierung
Überhaupt findet sich fast nichts zu Ortskräften in der Halbjahresbilanz der Außenministerin. Dort
steht: »Rund 21.000 Menschen sind nach Deutschland eingereist. Das sind rund zwei Drittel der Afghan*innen mit einer Aufnahmezusage aus Afghanistan. Dabei handelt es sich um Ortskräfte und
Afghan*innen der sog. »Menschenrechtsliste« und deren engsten Familienangehörigen. Von den Ortskräften konnten bereits rund drei Viertel einreisen.«
Nach Einschätzung von PRO ASYL und anderen Menschenrechtsorganisationen müssen jedoch Tausende von Menschen mehr zu den Ortskräften gerechnet werden. Denn sie alle sind in großer Gefahr, müssen sich im eigenen Land verstecken, weil die Taliban sie wegen ihrer Arbeit für westliche Mächte als Verräter betrachten und deshalb verfolgen. Dazu zählen unter anderem allein die rund 3.000 früheren Mitarbeiter des oben erwähnten GIZ-Polizeiprojekts (PCP), die im Februar 2022 beim Verwaltungsgericht Berlin Untätigkeitsklagen gegen die Bundesregierung eingereicht haben mit der Forderung, Visa für Deutschland zu bekommen.
Chronik des Versagens
Sie und viele Tausende Ortskräfte mehr hätten schon vor oder zumindest mit dem Abzug der Bundeswehr in Sicherheit gebracht werden können. Doch die Chronik des Versagens begann schon weit vor dem 29. Juni 2021. Monatelang war bekannt, dass die deutschen und alle anderen westlichen Truppen abziehen wollten. Und seit Jahren war bekannt, dass Menschen, die mit westlichen Truppen, Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und anderen westlichen Büros zusammengearbeitet haben, in den Augen der Taliban als Verräter gelten und verfolgt werden.
Bereits im April 2021 hatte PRO ASYL deshalb einen Vorschlag für ein Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte an die zuständigen deutschen Ministerien geschickt: das Auswärtige Amt, das Bundesinnenministerium, das Bundesverteidigungsministerium und an das Bundesentwicklungsministerium. Zu dem Programm gehörte: die Bundesregierung bietet den Ortskräften die Aufnahme an; alle gefährdeten Familienmitglieder werden aufgenommen, nicht nur die Kernfamilie; eine Plausibilitätsprüfung anstelle einer Gefährdungsprüfung durch die Sicherheitsdienste; sofortige Ausreise mit Visaerteilung bei der Ankunft; die Ortskräfte-Definition wird erweitert auf afghanische Mitarbeiter*innen von Durchführungsorganisationen der BMZ wie der GIZ, politische Stiftungen und andere Organisationen und Institutionen. Doch nichts geschah. Und so sind diese Vorschläge zur sofortigen Aufnahme von Ortskräften noch immer aktuell.
Viel Arbeit für den Untersuchungsausschuss
Und am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem endgültigen Abzug, warnte PRO ASYL erneut: »Jetzt sind Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren gefragt – es kommt auf jeden einzelnen Tag an.« Doch auch diese Warnung blieb ohne Reaktion. Statt Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen, setzte die Bundeswehr andere Prioritäten, so dass PRO ASYL am Tag, nachdem die deutschen Soldaten das Land verlassen hatten, erklärte: »Es ist mehr als irritierend, dass die Bundeswehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt ausgeflogen hat, aber viele Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, zurückgelassen werden. « Und am 9. August, als die endgültige Machtübernahme der Taliban nicht mehr zu verhindern schien, forderte PRO ASYL eine Luftbrücke für gefährdete Personen.
Doch alle Warnungen, Vorschläge, Bitten und Forderungen verhallten ungehört, die Chronik des Versagens wurde fortgeschrieben – bis heute. Wieso? Überforderung oder politischer Wille? Das muss auch ein Thema für den parlamentarischen Untersuchungsausschuss sein, der im Herbst seine Arbeit aufnehmen will.