In
gleich zwei heute ergangenen Urteilen gegen Deutschland stellt der Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH) unmissverständlich fest, dass
die bisherige deutsche Praxis beim Familiennachzug von bzw. zu Kindern "weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung noch mit
den Anforderungen im Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben".
Für Deutschland bedeutet dies eine 180-Grad-Wende, denn bislang verweigert das Auswärtige Amt trotz eines gleichlautenden Urteils des EuGH von 2018 die Familienzusammenführung, sobald die Kinder volljährig geworden sind – obwohl dies zum
Beispiel an den langen Asylverfahren oder den langen Verfahren zum Familiennachzug liegt. Nach dieser Logik büßen die Familien dafür, dass die deutsche Bürokratie so langsam arbeitet. Damit ist
nun Schluss: Laut dem EuGH kann der Anspruch auf Familiennachzug für Flüchtlinge durch die eintretende Volljährigkeit der Kinder nicht verloren gehen.
"Viele durch die Flucht zerrissenen Familien können nach den Urteilen aufatmen: Ihr Anspruch auf Familiennachzug besteht weiter, auch wenn ein Kind volljährig wird.
Es ist aber ein Skandal, dass Deutschland diese Familien vier weitere Jahre hingehalten hat, obwohl die Rechtslage bereits nach dem Urteil des EuGHs von 2018 eindeutig war. Den Familien wurde so
wertvolle Zeit geraubt. Die neue Bundesregierung muss dies jetzt zügig gesetzlich anpassen und auch weitere notwendige Schritte zur Beschleunigung des Familiennachzugs gehen. Denn angesichts der
weiterhin zähen Verfahren zum Familiennachzug wird für viele in Deutschland anerkannte Flüchtlinge die Frage offen bleiben, wann sie ihre engsten Angehörige in die Arme schließen können", so
Wiebke Judith, Teamleitung Recht & Advocacy bei PRO ASYL.
Die Urteile beziehen sich auf zwei Fallkonstellationen: In einem Fall geht es um die Situation, wenn Eltern zu ihrem in Deutschland lebenden Kind nachziehen
möchten, das hier eine Flüchtlingsanerkennung erhalten hat. In dem anderen Fall geht es um den Nachzug von Kindern zu ihren in Deutschland lebenden und als Flüchtling anerkannten
Eltern.
Bisherige deutsche Rechtsauffassung
Die deutsche Regierung vertritt bislang die Auffassung, dass es beim Familiennachzug auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem das nachziehende Familienmitglied den
Visumantrag gestellt hat oder zu dem das Visum erteilt wurde. Ist das Kind zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre oder älter, wurde ihm das Recht abgesprochen, zu seinen Eltern einzureisen, oder
den Eltern das Recht abgesprochen, zu ihrem Kind einzureisen.
Diese Rechtsauffassung nahm in den letzten Jahren unzähligen Familien die Möglichkeit in Deutschland zusammen zu leben, obwohl bei mindestens einem Familienmitglied
eine Flüchtlingsanerkennung vorlag. Und das meist unverschuldet, denn häufig werden die Kinder während der langen Visaverfahren und zum Teil der sich anschließenden Klageverfahren volljährig.
Davon betroffene Familien, die ohnehin durch die langen Verfahren litten, wurden obendrein damit bestraft, dass ihnen dann auch noch das Recht auf Familienleben genommen wird.
Außerdem öffnete diese Rechtsauslegung Tür und Tor für Ungleichbehandlung: Wenn eine Behörde einen Antrag schneller bearbeitet und einen anderen schlicht einfach
liegen lässt, hat sie die Macht darüber zu entscheiden, dass die eine Familie zusammenleben darf, während einer anderen Familie dieses Recht vorenthalten wird. Für die Betroffenen blieb daher
bisher völlig unvorhersehbar, ob sie das Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch nehmen können, was die Rechtssicherheit beeinträchtigte. Das sieht auch der EuGH in seinen Urteilen heute so
und fügt außerdem an: "Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um
der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten, und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit
seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde."
Eigentlich hatte der EuGH bereits im April 2018 anhand eines Falls aus den Niederlanden, bei dem es um den Nachzug eines Kindes zu einem als Flüchtling anerkannten Vater ging,
bereits deutlich gemacht, dass es auf den Zeitpunkt der Asylantragsstellung des anerkannten Flüchtlings ankommt. Urteile des EuGHs gelten verbindlich für alle Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und geben vor, wie Unionsrecht auszulegen ist. Die deutsche Regierung ignorierte dieses Urteil aber bislang und behauptete, die Rechtslage in den Niederlanden sei mit der in Deutschland
nicht zu vergleichen.
Zu den Urteilen
In dem Urteil zu der Rechtssache 279/20 geht es um eine junge Syrerin, die zu ihrem Vater ziehen möchte. Als der Vater seinen Asylantrag in Deutschland
stellte, war sie noch 17 Jahre alt, als ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und er den Antrag auf Familienzusammenführung endlich stellen konnte, war sie bereits 18 Jahre alt. Das
Bundesverwaltungsgericht legte den Fall dem EuGH vor, mit der Frage, ob es nach der EU-Richtlinie beim Kindernachzug zu Flüchtlingen für die Minderjährigkeit des nachzugswilligen Kindes auf den
Zeitpunkt der Asylantragstellung des Flüchtlings (hier also des Vaters) ankommt. Zudem wollte das Bundesverwaltungsgericht vom EuGH wissen, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen
familiären Bindungen zwischen dem inzwischen volljährig gewordenen Kind und dem Flüchtling zu stellen sind. Die Schlussanträge des Generalanwalt Collins vom 16.12.2021 hatten bereits mutmachende Signale für eine Stärkung des Rechts auf Familiennachzug gegeben. Heute ist die Klägerin 23
Jahre alt und wartet seit dem Tod ihrer Mutter in der Türkei auf den Familiennachzug zu ihrem Vater.
In der Entscheidung zu den verbundenen Rechtssachen C-273/20 und C-355/20 geht es um syrische Kinder, die als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland kamen und hier
als Flüchtlinge anerkannt wurden. Die daraufhin gestellten Visa-Anträge der Eltern zur Familienzusammenführung wurden abgelehnt, weil die Kinder
zwischenzeitlichvolljährig geworden waren. Unter Berufung auf die o.g. EuGH-Entscheidung im Jahr 2018 verpflichtete das angerufene Verwaltungsgericht Berlin mit Urteilen vom 01. Februar 2019 sowie vom 30. Januar 2019 die Bundesrepublik Deutschland jeweils zur Erteilung der beantragten Visa an die Eltern. Gegen diese Entscheidungen legte
die Bundesrepublik Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht ein, das dem EuGH diese Konstellation noch einmal vorlegte. Heute sind die Kläger*innen 23 Jahre
alt und warten weiterhin auf ihre Eltern.