Die beiden höchstrichterlichen Entscheidungen betreffen zwar zwei ganz unterschiedliche Gruppen, und die rechtliche Argumentation ist ebenfalls völlig unterschiedlich. Eines aber haben beide Entscheidungen gemeinsam: Sie sind eine schallende Ohrfeige für Bundesregierung und Gesetzgeberin, die seit Jahren das Ziel haben, nicht-deutsche Menschen, die den falschen Aufenthaltsstatus haben und / oder wirtschaftlich nicht verwertbar sind, vom Kindergeld und anderen Familienleistungen auszuschließen. Die Verweigerung von Familienleistungen wird auf diesem Weg als Instrument der Migrationssteuerung genutzt – oder passender: missbraucht. Dem haben die höchsten Gerichte nun (wie auch schon mehrmals zuvor zum Kindergeld und Elterngeld) einen Riegel vorgeschoben – jedenfalls für bestimmte Fälle. Daraus ergibt sich gesetzgeberischer Handlungsbedarf, auch und gerade im Hinblick auf die Einführung einer Kindergrundsicherung. Es muss klar sein: Alle Kinder in Deutschland müssen einen Anspruch darauf haben! Es kann nicht sein, dass das Gesetz hinsichtlich eines Leistungszugangs Kinder erster und zweiter Klasse schafft.
1. EuGH: Kindergeld auch für nicht-erwerbstätige Unionsbürger*innen in den ersten drei Monaten des Aufenthalts
Am 1. August 2022 hat der EuGH entschieden (EuGH, C‑411/20), dass die deutsche Regelung in § 62 Abs. 1a S. 1 und 2 EStG unionsrechtswidrig ist. Diese Regelung trat im Juli 2019 in Kraft und sieht seitdem vor, dass Unionsbürger*innen in den ersten drei Monaten des Aufenthalts nur dann einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie in dieser Zeit „inländische Einkünfte“ erzielen (also erwerbstätig sind). Nach dem aktuellen Urteil des EuGH bedeutet diese Zusatzbedingung eine unzulässige Diskriminierung, da deutsche Staatsangehörige, die nach Deutschland zurückkehren, diese nicht erfüllen müssten. Vielmehr besteht laut EuGH ein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Kindergeld auch für nicht-erwerbstätige Unionsbürger*innen gem. Art. 4 VO 883/2004 sowie gem. Art. 24 Abs. 1 UnionsRL. Der EuGH stellt klar, dass es sich beim Kindergeld um eine Familienleistung bzw. eine „Leistung der Sozialen Sicherheit“ handelt und nicht um eine „Sozialhilfeleistung“, so dass eine Einschränkung der Gleichbehandlung gem. Art. 24 Abs. 2 UnionsRL unzulässig ist (letzterer sieht eine solche nämlich nur für den Zugang zu „Sozialhilfe“ vor). Der EuGH hat damit auch die einigermaßen bizarre Argumentation der Bundesregierung, das Kindergeld wirke bei nicht-erwerbstätigen Unionsbürger*innen wie eine Sozialhilfeleistung und sei deshalb irgendwie dasselbe wie Sozialhilfe, eindeutig zurückgewiesen.
Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld ist jedoch, dass der Lebensmittelpunkt / Wohnsitz nach Deutschland verlagert worden ist und nicht nur ein vorübergehender Aufenthalt vorliegt (Kriterien zur Prüfung sieht Art. 11 VO 987/2009 vor).
Die Entscheidung des EuGH betrifft nur den Kindergeldanspruch in den ersten drei Monaten. Allerdings sieht § 62 Abs. 1a S. 3 EStG nach den ersten drei Monaten ebenfalls einen Kindergeldausschluss vor, wenn die Unionsbürger*in auch danach nicht erwerbstätig und nur zum Zweck der Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt ist. Auch dieser Ausschluss dürfte unionsrechtswidrig sein, da in diesem Fall ebenfalls ein rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt und daher das Diskriminierungsverbot zu beachten ist.
Die Gesetzgeberin ist nun gefordert, das Gesetz zu überarbeiten, die Ausschlüsse vom Kindergeld für Unionsbürger*innen zu streichen und eine unionsrechtskonforme Neuregelung zu schaffen. Aber: Auch bevor eine solche Gesetzesänderung in Kraft tritt, müssen die Familienkassen die Rechtsprechung des EuGH bereits berücksichtigen, da der Ausschluss von vornherein unionsrechtswidrig war und damit rechtlich unanwendbar ist. Im Klartext: Ab sofort besteht in den ersten drei Monaten des Aufenthalts der Anspruch auf Kindergeld, ggf. auch rückwirkend für die letzten sechs Monate. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Durchsetzung gegenüber den Familienkassen ein hohes Maß Beharrlichkeit erfordert.
2. Bundesverfassungsgericht: Kindergeld für Personen mit humanitären Aufenthaltserlaubnissen auch ohne Erwerbstätigkeit
Bereits am 28. Juni 2022 hat das Bundesverfassungsgericht in vier Verfahren (2 BvL 9/14; 2 BvL 10/14; 2 BvL 13/14; 2 BvL 14/14) geurteilt, dass der Anspruch auf Kindergeld für Personen mit bestimmten humanitären Aufenthaltserlaubnissen nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob sie erwerbtätig sind. Die Entscheidung ist erst heute per Pressemitteilung veröffentlicht worden. Sie bezieht sich auf die bis zum 29. Februar 2020 geltende Rechtslage des § 62 Abs. 2 Nr. 3b EStG, nach der Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 wegen Krieg im Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG nur dann Kindergeld erhielten, wenn sie seit drei Jahren in Deutschland lebten und erwerbstätig waren. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung klargestellt, dass zwar eine bestimmte Voraufenthaltszeit ein zulässiges Kriterium für die Prognose des voraussichtlich dauerhaften Verbleibs in Deutschland als Zugangsvoraussetzung sein könne, nicht aber die Erwerbstätigkeit. Daher hat es den damaligen § 62 Abs. 2 Nr. 3b EStG (dieser regelte die zusätzliche Voraussetzung der Erwerbstätigkeit) für verfassungswidrig erklärt, da dies dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspricht.
Seit dem 1. März 2020 gilt allerdings bereits eine andere gesetzliche Regelung: Seitdem besteht für die genannten humanitären Aufenthaltserlaubnisse ein Anspruch auf Kindergeld, wenn sie seit 15 Monaten in Deutschland leben oder sie erwerbstätig sind. Die aktuelle Regelung dürfte daher wohl den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen (zudem ist mittlerweile die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG von den restriktiven Sonderregelungen ausgenommen worden).
Interessant ist: Das Bundesverfassungsgericht hat seit der Vorlage durch das Finanzgericht Niedersachsen ganze neun (!) Jahre gebraucht, um über die Verfassungswidrigkeit zu entscheiden. Diese unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer ist umso gravierender, als es keine rückwirkende Nachzahlung des rechtswidrig verweigerten Kindergelds geben wird – außer, die damaligen Bescheide waren am 28. Juni 2022 (dem Tag des Urteils) aufgrund von Rechtsmitteln noch nicht bestandskräftig. Und noch immer sind dort zwei Verfahren anhängig, die die kategorischen Kindergeldausschlüsse für Personen mit Duldung bzw. Aufenthaltsgestattung betreffen. Es liegt auf der Hand, dass auch diese verfassungswidrig sein dürften – insbesondere dann, wenn der voraussichtlich dauerhafte Aufenthalt aufgrund einer hohen Schutzquote im Asylverfahren oder z. B. aufgrund einer Ausbildungsduldung objektiv gegeben ist. Es wäre schön, wenn die Gesetzgeberin nicht erst wieder gerichtlich zum Handeln gezwungen werden müsste, sondern diese absurden, anachronistischen und teilhabefeindlichen Ausschlüsse von sich aus streichen würde.