Berlin. 21. April 2023. Der Bundestag hat sich gestern mit einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Geregeltes Verfahren zur Einstufung sicherer Herkunftsstaaten einführen“ (20/6409) befasst. Der Antrag fordert die Bundesregierung unter anderem auf, auf die Bundesländer einzuwirken, damit diese der vom Bundestag 2019 beschlossenen Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien sowie von Georgien als sichere Herkunftsstaaten im Bundesrat zustimmen. Der verfassungswidrige Gesetzesentwurf der damaligen Großen Koalition war seinerzeit am Widerstand des Bundesrats gescheitert. Der neuerliche Antrag von CDU/CSU wurde zur weiteren Beratung in den federführenden Innenausschuss überwiesen. Dazu erklärt Patrick Dörr aus dem Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD):
Das gesamte Konzept der vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten ist falsch und ein Schlag ins Gesicht all jener, die dort Hass und Verfolgung erfahren. Das betrifft vor allem auch Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche und queere (LSBTIQ*) Menschen. In Algerien, Marokko und Tunesien werden homosexuelle Handlungen strafrechtlich verfolgt. In Georgien geraten queere Menschen immer weiter unter Druck. Besonders der Einfluss Russlands in Georgien ist eine massive Bedrohung. Diese Staaten sind für LSBTIQ* nicht sicher.
Auch in den Westbalkan-Ländern, die in Deutschland gesetzlich als sogenannte sichere Herkunftsstaaten eingestuft sind, gibt es gesellschaftliche, oft von staatlichen Stellen geduldete oder gar unterstützte Unterdrückung von LSBTIQ*, die sich in der Summe zur asylrelevanten Verfolgung verdichten kann. Mit Ghana und Senegal stehen bereits jetzt zwei Länder, in denen homosexuelle Handlungen verboten sind und mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden, auf der Liste „sicherer Herkunftsstaaten“. In Ghana wird derzeit sogar ein Gesetz diskutiert, dass die Verfolgung von LSBTIQ* noch weiter verschärfen würde.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sich nicht dem populistischen Druck von Union und AfD zu beugen, sondern vielmehr endlich auch Ghana und Senegal von der Liste zu streichen.
Wenn Deutschland Staaten für „sicher“ erklärt, in denen homosexuelle Handlungen strafrechtlich verfolgt werden oder gegen LSBTIQ* gehetzt wird, ist das eklatant rechtswidrig. Bereits 1996 hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass nur dann eine Einstufung möglich ist, wenn "Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen" besteht. 2021 hat dann der französische Staatsrat entschieden, dass Ghana und Senegal von der entsprechenden französischen Liste vermeintlich sicherer Herkunftsstaaten gestrichen werden müssen. Das oberste französische Verwaltungsgericht begründete sein Urteil explizit mit der Verfolgung von LSBTIQ* in diesen Ländern. Durch die bestehende Einstufung der Verfolgerstaaten Ghana und Senegal macht sich Deutschland bereits jetzt zum Handlanger von Regierungen, die die Menschenrechte queerer Menschen verleugnen und mit Füßen treten. Eine solche Politik schwächt den weltweiten Kampf zur Abschaffung der Kriminalisierung von Homosexualität empfindlich.
Geflüchtete aus Staaten, die Deutschland für sicher erklärt hat, kommen im Rahmen des Asylantrages in ein Schnellverfahren ohne Zugang zu fachkundiger Beratung und ausreichendem Rechtsschutz. Das bedeutet gerade für queere Geflüchtete, dass sie faktisch von einer fairen Prüfung ihrer Asylgründe ausgeschlossen werden. Zudem werden sie verpflichtend in besonderen Aufnahmeeinrichtungen mit Menschen aus ihren Herkunftsländern untergebracht, so dass sie Gefahr laufen, Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmechanismen bis hin zur Gewalt wie in ihrer Heimat ausgesetzt zu sein. Außerdem können Geflüchtete aus als sicher eingestuften Herkunftsstaaten sogar aus einem noch laufenden Asylverfahren heraus abgeschoben werden.
Hintergrund
Die Kategorie der „sicheren Herkunftsstaaten“ kommt aus dem Asylrecht. Nach Artikel 16a in unserem Grundgesetz können Staaten per Gesetz als sichere Herkunftsländer definiert werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass dort „weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. Grundlage für eine solche Einschätzung sind die Rechtslage, die Rechtsanwendung und die allgemeinen politischen Verhältnisse. Solch eine Einstufung hat asylrechtliche Folgen für Geflüchtete aus diesen Ländern. „Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.“ (Art. 16a GG). In Deutschland gelten derzeit folgende Länder als sichere Herkunftsstaaten: Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien.
Die Einwände des Bundesrats gegen die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten um Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien hat die damalige schwarz-rote Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung damit abgetan, dass eine „systematische Verfolgung (verdeckte Ermittlungen etc.)“ nicht stattfinde und Homosexualität für die Behörden (nur) dann strafrechtlich relevant werde, wenn sie offen ausgelebt wird. Diesem sogenannten „Diskretionsgebot“ hat die Ampelregierung jedoch seit Oktober 2022 einen Riegel vorgeschoben. Die entsprechende Dienstanweisung wurde auf Druck des LSVD überarbeitet. Sie schreibt nunmehr vor, dass bei der Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit queerer Asylsuchender immer davon auszugehen ist, dass diese bei einer angenommenen Rückkehr ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität geoutet leben. Der Europäische Gerichtshof hatte in seinem Urteil vom 07.11.2013 (C-199/12 bis C-201/12), also bereits vor zehn Jahren, diese Praxis bereits ausdrücklich für unzulässig erklärt.
(Quelle: LSVD-Newsletter)