PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern Schutz von in der Türkei politisch Verfolgten und ein Ende des Flüchtlingsdeals mit der Erdoğan-Regierung:
Am 28. Mai 2023 wurde Recep Tayyip Erdoğan erneut zum Präsident der Türkei gewählt. In den zurückliegenden 20 Jahren wurde unter seiner Führung die Türkei zu einem autokratisch geführten Staat umgebaut. Nach dem gescheiterten Putsch-Versuch 2016 wurde insbesondere das Justizsystem weitgehend gleichgeschaltet, viele Richter:innen wurden entlassen oder inhaftiert. Die staatliche Verfolgung richtet sich gegen die kurdische Freiheitsbewegung, weitere ethnische Minderheiten, LGBTIQ, Gülen-Anhänger:innen, unabhängige Journalist:innen oder auch die politische Opposition.
„Der Sieg von Präsident Erdoğan ist eine herbe Niederlage für jene, die sich in der Türkei für Menschen- und Frauenrechte, Demokratie und Rechtsstaat einsetzen. Der Druck auf sie wird nach dieser Wahl noch stärker werden. Für viele wird es keine andere Option geben, als zu fliehen. Doch aktuell stehen ihre Chancen im deutschen Asylverfahren äußerst schlecht. Die Bundesregierung und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) müssen sich endlich ehrlich machen was die Situation in der Türkei angeht: Es gibt eine massive Verfolgung der Opposition und von Minderheiten, Straf- und Terrorismusverfahren werden hierfür gezielt genutzt. Doch immer wieder behauptet das BAMF, sie könnten in der Türkei auf faire Verfahren vertrauen“, kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Die sich verschlechternde Lage in der Türkei zeigt sich auch anhand der Fluchtbewegung. Im vergangenen Jahr 2022 wurden knapp 24.000 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger*innen registriert, eine neue Höchstmarke. Mehr Erstanträge wurden nur von Antragsstellenden aus Afghanistan und Syrien gestellt – ein Trend, der sich im ersten Quartal 2023 fortsetzt. Bekam jedoch 2019 noch etwa jede:r zweite Antragsstellende aus der Türkei einen Schutzstatus, erhält diesen im März 2023 nur noch jede:r vierte. Die (bereinigte) Schutzquote ist damit von über 50 % (2019) auf 24 % (April 2023) gefallen. Dass und wie das BAMF politisch Verfolgten aus der Türkei den ihnen eigentlich zustehenden Schutzanspruch verweigert, hat der Flüchtlingsrat u.a. hier dokumentiert (siehe auch: Grundrechte-Report 2023: Kein Schutz vor Erdoğan in Deutschland). Ein hoher Anteil der zunächst vom BAMF abgelehnten Asylsuchenden erhält später Schutz durch die Verwaltungsgerichte.
Der Wahlkampf war geprägt von massiven Hetzkampagnen gegen in der Türkei lebende Geflüchtete z.B. aus Syrien oder Afghanistan. Herausforderer Kılıçdaroğlu hatte u.a. angekündigt, alle Flüchtlinge nach Hause zu schicken, wenn er gewinnen würde. Und auch Erdoğan versprach, zeitnah eine Millionen Syrer:innen in die von der Türkei kontrollierte Zone in Nordsyrien zurückzuschicken. Hierbei handelt es sich um ein von der Türkei völkerrechtswidrig kontrolliertes Gebiet. Auch aktuell finden Abschiebungen in die Konfliktländer Syrien und Afghanistan aus der Türkei statt.
Seit 2015 versucht die EU, eng mit der Türkei bei Flüchtlingsfragen zu kooperieren. Neben der richtigen humanitären Unterstützung der circa 3,9 Millionen Flüchtlinge im Land geht es auch darum, in der EU ankommende Flüchtlinge in die Türkei zurück zu schicken. In Griechenland werden die Asylanträge etwa von syrischen oder afghanischen Flüchtlingen seit 2016 bzw. 2021 als „unzulässig“ abgelehnt, weil die Türkei für sie sicher sei. Nur die Haltung der Türkei, seit 2020 keine Abschiebungen aus Griechenland zu akzeptieren, stoppt eine massenhafte Rückführung von eigentlich Schutzberechtigten in das Land.
„Der Wahlkampf der letzten Wochen hat mehr als deutlich gezeigt, dass die Türkei kein sicheres Land für syrische oder afghanische Flüchtlinge ist. Die EU muss dies endlich einsehen und aufhören, die Türkei als Türsteher Europas zu instrumentalisieren“, fordert Wiebke Judith.
Im Rahmen der geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems könnten Kooperationen wie mit der Türkei in Flüchtlingsfragen weiter forciert und neben der Türkei noch weitere Staaten als „sicher“ eingestuft werden mit dem Ziel, Flüchtlinge aus Europa in diese Länder zu bringen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass bei einer weiteren Talfahrt der Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus der Türkei, auch diese häufig politisch Verfolgten in den geplanten Asylgrenzverfahren an den europäischen Außengrenzen landen, da alle Asylsuchenden aus Ländern mit einer Schutzquote von 20% oder weniger diesen zugewiesen werden sollen, oder wegen der Pushback-Politik gar nicht erst dazu kommen, in Europa Schutz zu suchen. Für mehr Informationen zu den Reformplänen siehe hier.
(Quelle: Flüchtlingsrat Niedersachsen)