Mit Zustimmung von Nancy Faeser und Befürwortung durch die grüne Außenministerin Baerbock und den liberalen Justizminister Buschmann haben die Innenminister*innen der EU einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Flüchtlingsrecht gestartet. PRO ASYL wirft insbesondere Faeser und Baerbock vor, das menschenrechtliche Desaster schön zu reden.
Es ist eine Fehlinformation, dass Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien nicht in das Grenzverfahren kommen. Auch für diese Gruppen wird absehbar zum Beispiel in Griechenland in den verpflichtenden Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen zuerst die Zulässigkeit eines Asylantrages geprüft. Die massiv verwässerten Kriterien für angeblich sichere Drittstaaten öffnen Tür und Tor, um sich der Schutzsuchenden auf scheinlegale Weise zu entledigen. Selbst Familien mit Kindern werden künftig an Europas Grenzen in Haftlagern hinter Stacheldraht landen – nicht einmal diese oft beschworene rote Linie hielt die Bundesregierung Medienberichten zufolge ein.
„Wenn Geflüchtete in Grenzverfahren weggesperrt werden, um sie in unsichere Drittstaaten abzuschieben, dann hat das mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“, sagt PRO ASYL-Sprecher Karl Kopp.
Und die viel zitierte Solidarität unter den Mitgliedsstaaten sieht so aus: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss das auch weiterhin nicht tun. Diese Länder können stattdessen finanzielle Zahlungen leisten – zum Beispiel an die sogenannte libysche Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr.
Die Originaltexte inklusive der Annexe, die gestern beim Rat für Inneres der EU beschlossen wurden, sind immer noch nicht veröffentlicht. PRO ASYL fordert die sofortige Veröffentlichung.
PRO ASYL befürchtet, dass letzte menschenrechtliche Bedenken der Bundesregierung fallen gelassen wurden und Faeser und Baerbock, wissentlich oder unwissentlich, bar jeder Grundlage die Realität schön färben.
Die von Faeser aufgestellte Behauptung, dass syrische und afghanische Flüchtlinge nicht in das Grenzverfahren kommen, ist sachlich falsch. Neben der verpflichtenden Anwendung der Grenzverfahren für Asylsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent sowie Schutzsuchenden, denen vorgeworfen wird, zum Beispiel Ausweisdokumente zerstört zu haben, steht es den Mitgliedstaaten offen, die Grenzverfahren auch auf jene Schutzsuchenden anzuwenden, die zum Beispiel über einen „sicheren Drittstaat“ fliehen. Alle Ankommenden werden bereits jetzt im EU-Modell-Projekt in Griechenland einer Zulässigkeitsprüfung unterworfen. Selbst Familien mit Kindern, die aus Syrien oder Afghanistan stammen, sind davon betroffen. Diese Praxis soll nun zur europäischen Norm werden.
PRO ASYL hat die nach und nach bekannt werdenden Zwischenergebnisse der Verhandlungen analysiert und legt in einer ersten Reaktion den Schwerpunkt auf die Grenzverfahren und die Auslagerung in Drittstaaten.
Grenzverfahren sind keine schnellen Asylverfahren an der Grenze. In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – wird zuallererst entschieden, ob ein Asylantrag zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird zurückgewiesen. Und das gilt auch für Kinder und ihre Familien. Und weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, sollen die Kriterien gesenkt werden, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Das Kriterium, wann ein dritter Staat als sicher gilt, soll so aufgeweicht werden, dass angeblich sichere Teilgebiete ausreichen, um Menschen in das Land abzuschieben.
„The designation of a third country as a safe third country both at Union and both at Union and at national level may be made with exceptions for specific parts of its territory or clearly identifiable categories of persons.“ (Artikel 45 Absatz 1a AVVO)
Mitgliedstaaten sollen bei der nationalen Bestimmung von „sicheren Drittstaaten“ auch nur Teile eines Staates als sicher erklärt können. Eine europäische Norm, die dies verhindert, gibt es dann nicht mehr. Die Justiz als dritte Gewalt wird damit entscheidend geschwächt. Bisher haben europäische Gerichte regelmäßig Verstöße gegen Europäisches Recht gerügt.
Noch unklar ist, wie das Kriterium formuliert ist, nach dem ein Gebietskontakt des Schutzsuchenden zu diesem Staat noch nötig sein soll. Großbritanniens Ruanda-Modell könnte nur scheinbar vom Tisch sein.
Viele Mitgliedsstaaten haben gefordert, dass noch nicht einmal eine Verbindung der Schutzsuchenden zu diesem Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, bestehen müsse. In der letzten Stunde der Verhandlungen am Donnerstag wurden Verabredungen getroffen, die für den Schutz entscheidend sein werden – die aber noch nicht bekannt sind. Äußerungen in der Pressekonferenz weisen darauf hin, dass auch hier die Mitgliedstaaten selbst darüber entscheiden können, ob sie eine solche Verbindung voraussetzen. Damit wäre der Weg zum Beispiel für einen Österreich-Ruanda-Deal geebnet.
PRO ASYL fordert: Die Beschlüsse müssen gerade an dieser Stelle umgehend öffentlich gemacht werden. Die Bedeutung wird an den Zwischenständen deutlich.
Stand 17. Mai: „Member States may under national law provide for rules requiring a connection between the applicant and the third country concerned on the basis of which it would be reasonable for that person to go to that country.“ (Artikel 45 Absatz 2 AVVO)
Stand 6. Juni: "The concept of safe third country may only be applied provided that:
b) there is a connection between the applicant and the third country in question on the basis of which it would be reasonable for that person him or her to go to that country, including because the applicant has transited through that third country, or if there is no such connection, the applicant consents to go there;"
Hierzu haben aber mehrere Mitgliedstaaten gesagt, dass das für sie nicht akzeptabel ist. Für die Streichung des verpflichtenden Verbindungselements und für mindestens eine Rückkehr zum vorherigen Kompromissvorschlag der Präsidentschaft sprachen sich AUT, CZE, NLD, GRC, HUN, POL, LTU (einziger offener Punkt), LVA, GRC, MLT, CYP, ITA, DNK aus.
Siehe Bericht vom Ausschusses der Ständigen Vertreter.
(Quelle: PRO ASYL)