Das Europäische Asylsystem hat seit 2014 über 26.000 Tote gefordert, allein vergangene Woche mehr als 500. Was als hehres Ziel und mit gemeinsamen Rechtsakten begann, ist zu einem Abschottungssystem verkommen, das ein fundamentales Rechtsstaatsproblem offenbart.
Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Griechenland kürzlich abermals verurteilt hat, Menschen im Lager Moria einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu haben, hält der Rat der EU an einer Reform des Systems fest, die Verfahren an der Grenze und Inhaftierungen zur Leitschnur macht.
Die zum Großteil 2013 von der EU verabschiedeten Rechtsakte zu Verfahren, Aufnahme und Status von Geflüchteten haben aus der Asylpolitik einen der am stärksten regulierten Bereiche der EU gemacht. Die gemeinsamen Vorschriften waren zunächst ein Schritt vorwärts – so hat Griechenland etwa erst seit 2013 eine Asylbehörde.
Doch 2015 bedeutete einen Wendepunkt. Der Krieg in Syrien führte zu einer hohen Zahl Schutzsuchender. Die EU-Kommission reagierte mit der (aktionistischen) Einführung sogenannter Hotspots: Zentren an den Außengrenzen. Der Anfang des heutigen Systems.
Wollte man zunächst „Fehlallokationen“ ausgleichen, registrieren und umverteilen, machte der 2016 geschlossene EU-Türkei-Deal aus griechischen Inseln Sackgassen: Neuankommende sollten in die Türkei abgeschoben werden. In der Folge dürfen Schutzsuchende auf Geheiß der EU die Insel, auf der sie angekommen sind, nicht verlassen.
Nur: Der EU-Türkei-Deal funktioniert nicht. Die Türkei ist nicht der sichere Drittstaat, als der der Deal sie einstufen will. Die Folge: Rechtsbeistände verhindern Abschiebungen, die Zahl der Rückführungen bleibt verschwindend gering. Die Zahl der Neuankommenden indes nicht und so werden die Lager voller und voller. So entsteht das berüchtigte Moria.
Die europäischen Regelungen sind nicht mehr das Papier wert, auf dem sie stehen. Was bleibt, sind leere Versprechen wie menschenwürdige Unterbringung, effektiver Rechtsschutz oder Haft als letztes Mittel. Wen interessiert schon, dass die Türkei seit März 2020 niemanden zurücknimmt, der Deal damit final gescheitert ist und Menschen zwischen zwei Welten gefangen sind, wenn man ein Exempel zur Abschreckung statuieren kann?
Wen interessiert, dass Menschen auf abgelegenen Inseln keinen Zugang zu Rechtsbeiständen und ihren unveräußerlichen Rechten haben? Wen interessiert, dass Griechenland fundamentale völker- und menschenrechtliche Garantien verletzt und Menschen brutal ohne Verfahren abschiebt (Push-Backs)?
Dass sie auf immer gefährlichere Fluchtrouten gedrängt werden und im Mittelmeer ertrinken? Wenige. Und das ist das Kalkül eines Abschottungs- und Auslagerungssystems. Verantwortung wegschieben und vergessen. Hin und wieder eine Krokodilsträne weinen.
Doch was bedeutet es, wenn sich eine Gemeinschaft Regelungen setzt, die sie ignoriert? Rechtsstaatlichkeit heißt, dass Staaten an Recht und Gesetz gebunden sind und ihr Handeln von Gerichten überprüfbar ist. Wer den Zugang zu Gerichten unmöglich macht und wem Recht und Gesetz egal sind, dem ist der Rechtsstaat egal.
Diese Realitäten zu kennen, hilft beim Verstehen des jüngsten Kompromisses. Konzepte wie Grenzverfahren und Drittstaatskooperation sind nicht neu, sondern sind in den letzten Jahren bereits krachend gescheitert. Den Menschenrechtsverletzungen wird ein (dünner) Mantel der Legalität übergeworfen – doch Grenzen bleiben Sackgassen und Lager zentral.
Die Morias sind schon lange Hightech-Lagern gewichen, mit dreifachem Stacheldraht, versiegeltem Boden, Kameraüberwachung. Die griechische Regierung nennt sie Closed/Controlled Access Center und präsentiert sie stolz auf YouTube. Dabei ist längst gerichtlich geklärt, dass sich Staaten und die EU nicht einfach Bezeichnungen ausdenken und so tun können, als bedeutete eine anders genannte Unterbringung keine Inhaftierung.
In der Reformdiskussion geht unter, dass, anders als von Innenministerin Nancy Faeser suggeriert, nicht „nur“ diejenigen, deren Schutzquote unter 20 Prozent beträgt, ins Grenzverfahren genommen und eingesperrt werden (als ob für diese keine rechtlichen Garantien gelten). Vielmehr kann ein solches auch für Personen durchgeführt werden, die in einen sicheren Drittstaat zurückgeführt werden sollen – Stichwort: Türkei.
Es deutet nichts darauf hin, dass Außengrenzstaaten davon keinen Gebrauch machen werden. Im Windschatten der Diskussion beinahe unbemerkt werden weitere Rechte begrenzt, Rechtsbehelfe gestrichen, Zugang zu Rechtsschutz fast unmöglich gemacht.
In der EU gibt es eine Grundrechteagentur. 2019 hat sie festgestellt, dass „die Bearbeitung von Asylanträgen an den Grenzen, insbesondere wenn sich diese Zentren an relativ abgelegenen Orten befinden, […] grundrechtliche Herausforderungen [schafft], die fast unüberwindbar erscheinen“. Gänzlich unüberwindbar scheint die Ignoranz der EU und ihrer Mitgliedstaaten für die Werte und Rechte, auf denen die Union fußt.
Zur Person: Robert Nestler ist Jurist und Geschäftsführer der griechischen gemeinnützigen Organisation Equal Rights Beyond Borders. Seit 2016 arbeitet er als Asylrechtsberater in den Außengrenzlagern auf den griechischen Inseln Chios und Kos.
(Quelle: Tagesspiegel.de)