Seit einigen Wochen werden beharrlich Sachleistungen und Leistungskürzungen für Geflüchtete gefordert. Dabei erhalten die Betroffenen schon jetzt vielfach lediglich die reduzierten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In der Debatte werden Gruppen gegeneinander ausgespielt, und die Menschenwürde wird offen in Frage gestellt. Wir lehnen sozialrechtliche Verschärfungen ab und fordern: Das Asyl-bewerberleistungsgesetz muss abgeschafft und die Betroffe-nen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem einbezogen werden.
Mit Bestürzung verfolgen wir die aktuelle politische Debatte über Asylsuchende, die zunehmend von sachfremden und menschenfeindlichen Forderungen dominiert wird. Die Diskussionen über Sozialleistungen sind dafür ein gutes Beispiel. Solange Geflüchtete bedürftig sind, haben sie An-spruch auf das sozialrechtlich definierte Existenzminimum. Nun geht es offenkundig darum, diesen grundlegenden Anspruch Asylsuchender einzuschränken, mit der Begrün-dung, so könne die Zahl der Geflüchteten in Deutschland reduziert werden. Die im Raum stehenden Forderungen reichen von einer generellen Umstellung von Geld- auf Sachleistungen über diskriminierende Bezahlkarten und eine Kürzung des Existenzminimums bis hin zur Forderung, dass kranken Menschen eine medizinische Grundversorgung vorenthalten werden soll.
Diese Debatte suggeriert, Geflüchtete seien die zentrale Ursache für die zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Missstände wie fehlender Wohnraum oder fehlende Schul- und Kitaplätze. Diese haben jedoch andere Ursachen und würden auch bestehen, wenn Deutschland keine Asyl-suchenden aufnehmen würde. Geflüchtete werden so zu Sündenböcken für die verfehlte Sozialpolitik der letzten Jahre, ohne dass dadurch die tatsächlich bestehenden Probleme gelöst werden. Wer aber Scheinlösungen präsentiert, verspielt Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit.
Bereits 2012 hat das Verfassungsgericht in einer weg-weisenden Entscheidung das Recht jedes Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimum festgehalten und dafür gesorgt, dass die Leistungen nach dem Asylbewerber-leistungsgesetz zumindest vorübergehend annähernd dem Hartz-IV-Niveau (heute „Bürgergeld“) entsprachen. Zugleich erteilte das höchste deutsche Gericht dem Ansinnen, Sozialleistungen zur Abschreckung Asylsuchender einzu-setzen, eine deutliche Absage: „Die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrations-politisch nicht zu relativieren.“ (Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10) Mit anderen Worten: Sozialleistungen dürfen nicht gekürzt werden, um Menschen von der Flucht nach Deutsch-land abzuschrecken. Rund zehn Jahre später, im Jahr 2022, verurteilte das Bundesverfassungsgericht eine zehnprozentige Kürzung der Grundleistungen für alleinstehende Geflüchtete, die in „Gemeinschaftsunterkünften“ leben müssen, als verfassungswidrig.
Im Übrigen ist die Behauptung, bessere soziale Bedingungen würden zu mehr Schutzsuchenden führen, seit langer Zeit wissenschaftlich widerlegt. Bereits heute erhalten Geflüchtete vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen drastisch reduzierte Geldbeträge, neben einem Platz im Mehrbett-zimmer, Kantinenessen und Hygienepaketen und einer oft unheilvoll verzögerten Gesundheitsversorgung. Kein Mensch, der aus einem Krieg oder vor politischer Verfolgung flieht, gibt die Flucht auf, weil er oder sie in Deutschland demnächst mit noch mehr Sachleistungen leben muss. Wenn in diesem Jahr 2023 das Bundesamt in über 70 Prozent aller Asylanträge, die bis September inhaltlich entschieden wurden, einen Schutz-status feststellt, wird nur allzu deutlich, dass die Menschen nicht wegen der Sozialleistungen kommen, sondern hier Schutz suchen. Die Behauptung, von den geringen Asyl-bewerberleistungen würden relevante Geldbeträge in Her-kunftsländer überwiesen oder im Nachhinein an Schlepper ausgehändigt, ist zynisch und realitätsfern.
Die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip garantieren ein menschenwürdiges Existenzminimum – für alle Menschen. Wir sagen: Wer unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausspielt und die Menschenwürde, Artikel 1 unserer Verfas-sung, offen in Frage stellt, wendet sich gegen zentrale Errungenschaften unserer Demokratie und des Sozialstaates. Und wer das durch das Bundesverfassungsgericht bestätigte Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum missachtet, unterminiert den Rechtsstaat. Wir erneuern deshalb den Appell, zu dem sich im laufenden Jahr bereits mehr als 200 Organisationen zusammenfanden: Es kann nicht zweierlei Maß für die Menschenwürde geben. Wir fordern das gleiche Recht auf Sozialleistungen für alle in Deutschland lebenden Menschen, ohne diskriminierende Unterschiede. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft werden. Die Betroffenen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem einbezogen werden.
Unterzeichnende Organisationen, 31. Oktober 2023
Bundesebene
Amnesty International Deutschland e.V.
Antidiskriminierungsverband Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen
Anwaltverein
Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.
Ärzte der Welt e. V.
AWO Bundesverband
Be an Angel e.V.
bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung (BACK)
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – BumF e.V.
Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e.V. (NeMO)
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V.
Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e.V.
Der Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
Der Paritätische Gesamtverband
Deutsche Aidshilfe
Deutscher Caritasverband e.V.
Diakonie Deutschland
Eritreische Demokratische Union in Deutschland e.V.
Flüchtlingshilfe Iran e.V.
FORUM MENSCHENRECHTE
Handicap International e.V.
International Rescue Committee (IRC) Deutschland
IPPNW – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Jugendliche ohne Grenzen
JUMEN e.V. – Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Lesben- und Schwulenverband LSVD
medico international e.V.
MIA- Mütterinitiative für Alleinerziehende e.V.iG
Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
Oxfam Deutschland e.V.
PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
Save the Children Deutschland e.V.
SOLWODI Deutschland e.V.
TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e.V.
terre des hommes Deutschland
unofficial.pictures e.V.
Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ)
With Wings and Roots e.V.
Landesebene
Abschiebehaftberatung Nord
Antira-Vernetzung NRW
Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e.V.
AWO Bezirksverband Niederrhein e.V.
Bayerischer Flüchtlingsrat
Berlin hilft
Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS)
Berliner Stadtmission
Condrobs e. V.
Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW e.V.
Der Paritätische NRW
Fachvorstand Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit
ver.di Hamburg
Flüchtlingshilfe Velbert und Projekt Deutsch Lernen e. V.
Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e.V.
Flüchtlingsrat Berlin e.V.
Flüchtlingsrat Brandenburg
Flüchtlingsrat Bremen
Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Flüchtlingsrat NRW e.V.
Flüchtlingsrat RLP e.V.
Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Flüchtlingsrat Thüringen e.V.
Hessischer Flüchtlingsrat
Initiativausschuss für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz
Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement gGmbH
kargah e.V. – Verein für interkulturelle Kommunikation,Flüchtlings- und Migrationsarbeit
lifeline e.V.
Medibüro Berlin | Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen
Migrationsrat Berlin e.V.
moveGLOBAL e.V.
Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN)
Ökumenische Flüchtlingshilfe Oberstadt, ÖFO e.V. (Mainz)
Psychosoziale Zentren für Migrant*innen in Sachsen-Anhalt, Halle und Magdeburg
Refugio Stiftung Schleswig-Holstein
Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.
Sächsischer Anonymer Behandlungsschein e.V.
Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.
SOFRA – Queer Migrants e.V
Sprungbrett Zukunft Berlin e.V.
Verband für interkulturelle Arbeit (VIA) Regionalverband
Berlin/Brandenburg e.V.
Zentrum ÜBERLEBEN
(Quelle: nds-fluerat.org)