Hintergrund der Entscheidung des EuGH (Urteil vom 16.01.2024 - C-621/21 - WS gegen Bulgarien - asyl.net: M32111) ist, dass eine Verfolgungshandlung grundsätzlich nur dann zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt, wenn sie auf-grund eines der abschließend aufgezählten Verfolgungsgrün-de erfolgt (Art. 10 Abs. 1 Bst. d Qualifikationsrichtlinie oder Art. 1 Bst. A GFK, vgl. § 3b AsylG). Dabei kommt bei geschlechts-spezifischer Verfolgung insbesondere die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, näm-lich der sozialen Gruppe der Frauen, in Betracht. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG regelt, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörig-keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlecht-liche Identität anknüpft.
Gleichwohl sind deutsche (Ober-)Verwaltungsgerichte z.T. weiterhin der Auffassung gewesen, dass geschlechts-spezifische Verfolgungshandlungen gegen Frauen wie Zwangs-heirat, häusliche- oder sexualisierte/sexuelle Gewalt regel-mäßig nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfolgten (siehe z.B. OVG Bremen, Beschluss vom 24.01.2023 - 1 LA 200/21 - asyl.net: M31543). Denn: Für die Bestimmung einer sozialen Gruppe sei erforderlich, dass die Gruppe eine nach außen abgrenzbare Identität aufweise und von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrach-tet werde. Das sei bei Frauen per se nicht der Fall, da sie etwa die Hälfte der Gesellschaft ausmachten und von der sie umge-benden Gesellschaft eben nicht als andersartig wahrgenom-men würden. Viele Gerichte haben die Flüchtlingseigenschaft in Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgung deshalb nur dann zuerkannt, wenn Betroffene Teil einer abgrenzbaren Unter-gruppe von Frauen waren, wie z.B. alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (M31937) oder Frauen, die in ihrer Identität westlich geprägt sind (M31777).
Der EuGH hat in seinem Urteil ausgeführt, dass bei der Ausle-gung der Verfolgungsgründe auch Istanbul Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu berücksichtigen ist. Das Urteil stellt klar, dass Frauen eines Herkunftslandes auch insgesamt und nicht nur als enger eingegrenzte Gruppe eine "bestimmte sozialen Gruppe" darstellen. Eine "deutlich abgegrenzte Identität" könne sich auch daraus ergeben, dass Frauen aufgrund geltender sozia-ler, moralischer oder rechtlicher Normen von der sie umge-benden Gesellschaft anders wahrgenommen werden können. Laut EuGH können Frauen deshalb auch insgesamt als "be-stimmte sozialen Gruppe" gemäß Art. 10 Abs. 1 Bst. d Quali-fikationsrichtlinie angesehen werden, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
Frauen sind weltweit solcher Gewalt ausgesetzt. Daher ist zu hoffen, dass die hiesige Rechtsprechung dies nunmehr be-rücksichtigt und Frauen, die vor geschlechtsspezifischer Gewalt fliehen, die Flüchtlingseigenschaft erhalten.
(Quelle: asyl.net)