Darf in der Europäischen Union ein Nicht-EU-Land als "siche-rer Drittstaat" bezeichnet werden, auch wenn dieses die Rück-nahme von Asylsuchenden systematisch verweigert? Diese Frage hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg acht Jahre nach Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals in der Rechtssache C-134/23 Elliniko Symvoulio gia tous Prosfyges zu klären. Die PRO ASYL-Partnerorganisation Refu-gee Support Aegean (RSA) und der Griechische Flüchtlingsrat (GRC) hatten einen Antrag auf Annullierung der Einstufung der Türkei als "sicherer Drittstaat" durch Griechenland einge-reicht. Der griechische Staatsgerichtshof, das oberste Verwal-tungsgericht Griechenlands, hat daraufhin die Frage dem EuGH vorgelegt. Heute fand dazu die Anhörung statt, die RSA vor Ort begleitet hat.
"Das Konzept des sicheren Drittstaats steht für die Weigerung der EU, Verantwortung für schutzsuchende Menschen zu über-nehmen. Der EU-Türkei Deal hat acht Jahre lang den Abbau des Flüchtlingsschutzes in Griechenland und ganz Europa vorangetrieben. Dass anlässlich dieses traurigen Jahrestages in Deutschland und Europa über eine Neuauflage des Abkom-mens und die Auslagerung von Asylverfahren in Nicht-EU-Staaten debattiert wird, ist brandgefährlich", so Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL. "Obwohl das Abkommen nicht wie geplant funktioniert, hat es zu massiven Menschenrechts-verletzungen von Schutzsuchenden geführt. Der EU-Türkei-Deal steht für eine gescheiterte Abschottungspolitik, die sich der Verantwortung für Schutzsuchende im großen Stil entledigen möchte", so Kopp weiter.
Eleni Spathana, Anwältin bei Refugee Support Aegean (RSA), hat die PRO ASYL-Partnerorganisation bei der gestrigen Anhö-rung vor dem EuGH vertreten. Sie erklärt: "Der EU-Türkei-Deal zeigt, wie weit die Europäische Union von Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit abzuweichen bereit ist. Es ist beschämend, dass sie auch acht Jahre nach dem gescheiterten Abkommen und seinen fatalen Auswirkungen die Normalisierung und Aus-weitung einer Politik, die auf Externalisierung von Verant-wortung und harten Grenzverfahren setzt, voran. Damit gef-ährdet die EU Menschenleben und letztendlich die Demokratie selbst. Diese Politik ist weder legal, noch legitim oder nachhal-tig für die Europäische Union und Griechenland und muss be-endet werden."
Hintergrund: Konzept des "sicheren Drittstaats" und seine An-wendung bei GEAS
Das Konzept des "sicheren Drittstaats" steht im Zentrum des EU-Türkei-Deals von 2016. Es ermöglicht Griechenland, Asyl-anträge ohne inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe im Her-kunftsland als "unzulässig" abzulehnen und auf die Türkei zu verweisen. Obwohl die Türkei seit vier Jahren keine Asyl-suchenden mehr zurück nimmt, hält Griechenland bis heute an der Einstufung der Türkei als "sicherer Drittstaat" fest – ein Verstoß gegen internationales Recht. Die griechische Anwen-dung des Konzepts ist eindeutig rechtswidrig, wie ein Gutach-ten von PRO ASYL und RSA zuletzt zeigte, und hat verheerende Auswirkungen für tausende Geflüchtete: Ohne Lebensperspek-tive und Zugang zu Schutz und Rechten harren sie zum Teil jahrelang unter widrigsten Bedingungen in griechischen La-gern aus.
Das Konzept der "sicheren Drittstaaten" ist ein Kernstück der jüngst beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europä-ischen Asylsystems (GEAS) der Europäischen Union. Mit der bevorstehenden Verabschiedung voraussichtlich Mitte April werden Schutzstandards in der Europäischen Union deutlich abgesenkt. Es ist absehbar, dass EU Mitgliedsstaaten durch die Ausweitung des Konzepts "sicherer Drittstaat" die Möglichkeit eröffnet werden soll, sich weitgehend aus dem Flüchtlings-schutz zurückzuziehen, indem sie Nachbarländer oder andere Staaten entlang der Fluchtrouten als "sicher" einstufen.
Während massive Verschärfungen des Asylrechts im Rahmen der GEAS-Reform unmittelbar bevorstehen, wird in rechtspo-pulistischen Debatten in Deutschland, Großbritannien, Italien sowie anderen europäischen Staaten bereits eine weitere Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes gefordert: Unter dem Schlagwort "Auslagerung von Asylverfahren in Nicht-EU-Staaten" werden rechtlich höchst fragwürdige Ideen disku-tiert, die weder praktisch noch menschenrechtskonform umsetzbar sind. Stattdessen sollten vorhandene Ressourcen vorausschauend in die Verbesserung von Aufnahme- und Asylsystemen gesteckt sowie sichere Fluchtrouten ausgebaut werden.
(Quelle: proasyl.de)