Die evangelische Kirche distanziert sich von der AfD. Was heißt das konkret? Anna-Nicole Heinrich über die Kirchenvorstands-wahlen, die Folgen der Missbrauchsstudie und den Religions-unterricht.
Frau Heinrich, Ende Januar wurde die ForuM-Studie zu sexua-lisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt. Was hat Sie in den vergangenen Wochen am meisten überrascht?
Anna-Nicole Heinrich: Überraschung ist keine Kategorie, mit der ich auf diese mehr als 800-seitige Studie blicke.
Sondern?
Heinrich: Mich haben beim Lesen der Studie die detailreichen Beschreibungen nachdenklich gemacht: nicht nur darüber, welches Unrecht Menschen in unserer Kirche angetan wurde, sondern welches erneute Unrecht ihnen dann im kirchlichen Umgang widerfuhr, nachdem sie ihren Fall gemeldet hatten. Das beschäftigt mich sehr.
Überrascht zeigten sich Kirchenverantwortliche darüber, dass die Studie nicht die von ihnen erwartete Resonanz in der brei-ten Öffentlichkeit fand. Auch vielleicht, weil sexualisierte Ge-walt in "der Kirche" als nichts mehr Außergewöhnliches be-trachtet wird.
Heinrich: Ich erlebe das anders. Und das Thema ist ja weiter in der Öffentlichkeit – auch wir sprechen ja gerade darüber.
Was erleben Sie?
Heinrich: Ich war in den vergangenen Wochen viel in Deutsch-land in kirchlichen Kontexten unterwegs, es ist Thema. Gerade in den Kirchengemeinden beschäftigt es viele stark, was die Studie herausgearbeitet hat. Ich hoffe, dass dieses Interesse nicht abflacht und dass jetzt wirklich konsequent Präventions- und Interventionskonzepte umgesetzt werden. Wir brauchen einen professionellen Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt – und müssen weiter an flächendeckenden Standards arbeiten.
Nach Vorstellung der ForuM-Studie wurde all das von einer Debatte über den kirchlichen Aufklärungswillen überlagert. Beauftragte Forscher mahnten eine "schleppende Zuarbeit der Landeskirchen" an und erklärten, wie beschränkt daher die Aussagekraft der von ihnen ermittelten Zahl von 1259 Be-schuldigten und 2225 Betroffenen sei. Würden Sie im Rück-blick sagen: Wir hätten es besser machen müssen?
Heinrich: Im Rückblick ist man leider immer schlauer. Da gibt es einiges, was wir für künftige Studien gelernt haben. Jetzt ist es wichtig, auf die 46 Handlungsempfehlungen der Studie zu schauen. Und das gemeinsam mit Betroffenenvertretern und -vertreterinnen. Da gab es deutliche Stimmen: "Fokussiert euch nicht alleine auf die Zahlen, habt die gesamten Ergeb-nisse im Blick und fokussiert euch auf die Erfahrungen, die betroffene Personen in der Kirche machen mussten!" Nichtsdestotrotz wird die Frage nach belastbaren Fallzahlen eine Frage der Aufarbeitung bleiben. Mit ihr werden sich auch die unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen befassen, die nun bis Anfang nächsten Jahres eingerichtet werden. Zudem setzen wir uns weiter für eine Dunkelfeld-studie ein, ohne die wir nie das tatsächliche Ausmaß sexuali-sierter Gewalt in der Kirche erfahren werden.
Sind Sie hierfür mit der katholischen Kirche im Gespräch?
Heinrich: Eine Dunkelfeldstudie müsste gesamtgesellschaft-lich angelegt sein. Die Evangelische Kirche in Deutschland, die EKD, unterstützt die entsprechenden Bemühungen im Natio-nalen Rat der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des se-xuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, die über ein Zentrum für Prävalenzforschung umgesetzt werden sollen.
Sie arbeiten im "Beteiligungsforum" mit Missbrauchsbetrof-fenen zusammen an einem Maßnahmenkatalog. Der soll im November der EKD-Synode, also dem Kirchenparlament, vor-gestellt werden ...
Heinrich: Wir werden über ein ganz konkretes Maßnahmen-paket abstimmen, das jetzt im Beteiligungsforum gemeinsam mit betroffenen Menschen erarbeitet wird. Andere Vorhaben waren auch schon vor der Veröffentlichung der Studie in Ar-beit. Zum Beispiel ein nachgeschärftes Disziplinarrecht oder die Vereinheitlichung der Standards bei den Anerkennungs-verfahren.
Bei denen geht es um Zahlungen an Betroffene. Deren Spre-cher Detlev Zander erklärte, wenn die Reform dieser Verfahren nicht verabschiedet werde, "dann gnade euch Gott".
Heinrich: Ich hoffe sehr, dass wir zu einer Vereinheitlichung der Standards kommen. Es geht unter anderem darum, dass betroffenen Menschen in allen Landeskirchen nach einheitli-chen Bemessungskriterien Leistungen zuerkannt werden.
Bei der Synode wird überdies ein Nachfolger oder eine Nach-folgerin für die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, gewählt, oder?
Heinrich: Zunächst einmal muss der Rat der EKD nachbesetzt werden, indem zwei Personen gewählt werden. Erst wenn er wieder vollständig besetzt ist, wird aus seiner Mitte die oder der EKD-Ratsvorsitzende gewählt.
Kirsten Fehrs übernahm das Amt von Annette Kurschus. Die war wegen Vorwürfen, sie habe als Gemeindepfarrerin einen Fall übergriffigen Verhaltens vertuscht, zurückgetreten. Wird Fehrs wieder kandidieren?
Heinrich: Das müssten Sie Kirsten Fehrs fragen. Ich bin Kirsten Fehrs jedenfalls extrem dankbar, dass sie diese Aufgabe sofort vollumfänglich übernommen hat, neben ihrem Amt als Bi-schöfin.
Sie entschieden sich im Alter von sechs Jahren für evangeli-schen Religionsunterricht. Würden Sie sich heute wieder so entscheiden?
Heinrich: Ich kann mich schlecht in mein sechsjähriges Ich zurückversetzen – aber ich bin ziemlich sicher, ich würde mich wieder so entscheiden.
Immer mehr Menschen treten beispielsweise in Bayern aus der Kirche aus – oder melden ihre Kinder nicht zum Religions-unterricht an.
Heinrich: Mich hat der Religionsunterricht sehr geprägt. Er hat mir viel gegeben, genauso wie die kirchliche Jugendarbeit. Das war ein riesiger Ermöglichungsraum. Deshalb engagiere ich mich heute auch weiter für die Kirche, derzeit im Amt der Präses. Ein Ergebnis der großen Kirchenmitgliedschaftsun-tersuchung, die kürzlich veröffentlicht wurde, war, dass die Befragten den Religionsunterricht schätzen – umso mehr, je stärker in ihm offen diskutiert wurde und es auch um andere Religionen geht.
Dennoch hat er ein massives Rechtfertigungsproblem. Das hat jüngst die Debatte um die Reform des Grundschulstunden-plans in Bayern gezeigt. In der wurde gefordert, beim Fach "Reli" zu kürzen – oder es gleich abzuschaffen.
Heinrich: Wir müssen vielleicht noch stärker erklären, worum es im konfessionellen Religionsunterricht geht. Das ist ja kein Glaubenskursus. Und in ihm wird auch nicht missioniert.
Sie haben sich damals bewusst für das Fach entschieden, weil ...
Heinrich: … das ein Ort war, an dem ich verglichen mit den an-deren Unterrichtsfächern freier und selbstständiger denken konnte und durfte. Gerade weil es nicht immer auf eine Frage eine eindeutige Antwort gibt wie in vielen anderen Fächern. Ich kann mich noch gut an einige Reli-Stunden in meiner klei-nen Schule im Bayerischen Wald erinnern, in denen das The-ma "Tod, Sterben, Trauer" behandelt wurde. Diese Stunden empfand ich als sehr wertvoll.
Sie haben sich dann auch taufen lassen.
Heinrich: Ein paar Jahre später, ja. Dazu hat der Religionsun-terricht ganz wesentlich beigetragen: Er ermöglicht Kindern eine so vielfältige Perspektive aufs Leben! Deshalb ist es gut, dass er offen für alle ist.
Für alle?
Heinrich: Ich habe kürzlich mit einer muslimischen Gymnasial-schülerin gesprochen, die sich für evangelischen Religions-unterricht entschieden hat. Weil Religiosität dort nicht nur als Gegenstand behandelt werde wie in Ethik, sondern weil sie sich als Gläubige besonders ernst- und wahrgenommen fühle, wie sie sagte. Das ist kein Einzelfall: Bundesweit nehmen am evangelischen Religionsunterricht viele Kinder teil, die unge-tauft oder anderer Konfession sind. Das ist auch ein Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Im Oktober werden in Bayern die neuen Kirchenvorstände gewählt. Finden sich denn überhaupt noch genug Ehrenamt-liche, die sich sechs Jahre lang in der Gemeindeleitung enga-gieren?
Heinrich: Es finden gerade so viele Umbrüche statt. Wir stecken von der kirchlichen Gemeinde- bis zur Landesebene in Transformationsprozessen, und es gibt wirklich viel Gestal-tungsspielräume. Da eröffnet das Engagement im Kirchenvor-stand so viele Möglichkeiten wie selten zuvor. Ich hoffe sehr, dass das auch erkannt und genutzt wird.
Haben Sie Sorge vor AfD-Mitgliedern oder AfD-Funktionären, die sich in Kirchenämter wählen lassen wollen?
Heinrich: Völkisch-nationalistisches Denken ist nicht mit unse-ren christlichen Überzeugungen vereinbar.
Aber was heißt das konkret?
Heinrich: Dass sich die Mitgliedschaft in der AfD nicht mit dem Amt in der Kirche verträgt. In der Praxis wird es kompliziert. Wir müssen daher auch über Unvereinbarkeitsbeschlüsse dis-kutieren. Ich bin aber keine Juristin und weiß nicht, ob so et-was rechtlich Bestand haben kann. Für die anstehenden Kir-chenvorstandswahlen in Bayern, für die sich das wohl zeitlich nicht mehr umsetzen lässt, gilt: Wir müssen hier im Vorfeld klar kommunizieren. Es muss ganz klar sein: Rechtsextremes Gedankengut und Menschen, die damit sympathisieren, ha-ben im Kirchenvorstand nichts zu suchen.
Zur Person: Anna-Nicole Heinrich wurde 1996 in Schwandorf geboren und wuchs in Nittenau in der Oberpfalz auf. Sie stammt aus einem nichtchristlichen Elternhaus. Dennoch entschied sie sich für die evangelische Kirche – und wurde 2021 mit damals 25 Jahren zur jüngsten Präses der Synode, das ist das Kirchenparlament, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt. Damit zählt sie zu den höchsten Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Kirche.
(Quelle: augsburger-allgemeine.de)