Das Bundessozialgericht hatte bereits am 20. September 2023 entschieden, dass der Anspruch auf Leistungen nach SGB II (und SGB XII) wegen eines „verfestigten Aufenthalts“ nach fünf Jahren nicht von einer durchgehenden Wohnsitzanmeldung abhängig ist. Vielmehr reicht eine erstmalige Wohnsitzanmel-dung, die die Fünf-Jahres-Frist auslöst. Hierzu ist nun die schriftliche Urteilsbegründung veröffentlicht worden (BSG, Urteil vom 20. September 2023, B 4 AS 8/22 R).
Das Urteil ist von großer Bedeutung insbesondere für EU-Bür-ger*innen, die schon lange in Deutschland in prekären Um-ständen leben, unter Umständen wohnungslos sind und z. B. wegen Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit kein anderes Frei-zügigkeitsrecht erfüllen. Nach fünf Jahren Aufenthalt unter-liegen sie gem. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II (bzw. § 23 Abs. 3 S. 7ff SGB XII) nicht mehr dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II (bzw. § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII). Vorher würde oft nur ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 5ff SGB XII bestehen.
In der schriftlichen Urteilsbegründung des Bundessozialge-richts sind noch einige wichtige Klarstellungen enthalten:
- Der Anspruch auf reguläre SGB-II-Leistungen besteht nach fünfjährigem, gewöhnlichen Aufenthalt auch (bzw.: gerade) dann, wenn die materiellen Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht nicht erfüllt sind (§ 7 Abs. 1 S. 4 Halbsatz 1 SGB II).
- Voraussetzungen ist zum einen ein „ununterbrochener gewöhnlicher Aufenthalt von fünf Jahren ab erstmaliger behördlicher Anmeldung im Bundesgebiet (…). Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts - zum Beispiel ein kurzer Heimatbesuch - sind unschädlich; ansonsten beginnt die Frist wieder neu zu laufen.“
- Zum anderen setzt das BSG eine erstmalige behördliche Wohnsitzanmeldung voraus, die den Beginn der fünf Jah-re darstellt: „Die Anmeldung bei der Meldebehörde ist da-mit nicht nur Beweiserleichterung, sondern ihr kommt konstitutive Wirkung zu (…). Die Meldeobliegenheit nach § 7 Abs 1 Satz 5 SGB II besteht dabei unabhängig von einer ordnungsrechtlichen Meldepflicht (…).“
- Der „gewöhnliche Aufenthalt“ ergibt sich daraus, dass man sich in Deutschland „unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. (…), derjenige, der Leistungen begehrt, trägt insofern die objektive Beweislast.“
- Ein Gefängnisaufenthalt unterbricht nicht die Fünfjah-resfrist. Denn auch während der Haft kann der gewöhn-liche Aufenthalt in Deutschland bestehen. Das BSG stellt dies im konkreten Fall zwar für eine nur ganz kurze Haft von drei Tagen fest. Aber es verweist in diesem Zusam-menhang ausdrücklich auf eine andere Entscheidung des BSG, in der es um die Frage des gewöhnlichen Aufent-halts bei Gefängnisaufenthalt ging (BSG, Urteil vom 29.5.1991 - 4 RA 38/90). In diesem Fall war ein Mensch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Rich-ter*innen befanden damals: „Der sozialrechtliche Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes (vgl § 30 Abs 3 SGB I) knüpft vielmehr - ebenso wie der sozialrechtliche Begriff des Wohnsitzes - an die tatsächlichen Verhältnisse an. Er setzt neben anderem voraus, daß sich der Betreffende überhaupt an dem Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes aufhält und weiter, daß er hier den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat (…). Ausgehend von dem tatsäch-lichen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Versi-cherten ergibt sich zum anderen, daß sein gewöhnlicher Aufenthalt an seinem Gefängnisort (…) war. Befindet sich jemand nämlich aufgrund rechtmäßiger Verurteilung in Strafhaft, hat er mangels eines anderen tatsächlichen Aufenthalts auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt am Gefängnisort. Daß das erst recht gelten muß, wenn der Betroffene, wie hier der Versicherte, zu lebenslanger Haft-strafe verurteilt worden ist, steht außer Frage.“ Das Bun-dessozialgericht hat sich damit eindeutig entgegen der bisherigen Rechtsauffassung der Bundesagentur für Ar-beit positioniert, nach der ein Gefängnisaufenthalt nicht anrechnungsfähig auf die Fünfjahresfrist sei (so die Fachliche Weisung zu § 7 SGB II; Randnummer 7.36a).
- Der Fünfjahreszeitraum verlangt zwar eine erstmalige, aber keine durchgehende Wohnsitzanmeldung: Es sei ge-setzlich festgelegt, dass der Fünfjahreszeitraum „mit der Anmeldung beginnt, ohne ausdrücklich anzuordnen, dass die Meldung auch über den gesamten Zeitraum von mindestens fünf Jahren Bestand haben muss. Der Rege-lung lässt sich damit nicht hinreichend entnehmen, dass neben das Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts als weitere Voraussetzung die permanente Meldung in der Bundesrepublik Deutschland tritt.“
- Zeiten, für die die Ausländerbehörde den Verlust des Frei-zügigkeitsrechts festgestellt hat, zählen für den Fünfjah-reszeitraum nicht mit. Dies gilt aber nur dann, wenn die Ausländerbehörde einen wirksamen Verwaltungsakt an die betroffene Person erlassen hat. Eine bloße E-Mail der ABH, in der diese dem Jobcenter mitteilt, „dass dem Klä-ger kein rechtmäßiger Aufenthalt in H und kein Dauer-aufenthaltsrecht bestätigt werden könne“, ist kein sol-cher Verwaltungsakt. „Bei der E-Mail der Mitarbeiterin des Ausländeramts der Stadt H an den Beklagten vom 7.9.2018 handelt es sich ersichtlich nicht um eine eine Regelungs- und Außenwirkung intendierende Verfügung des Ausländeramts.“ Daher zählt die gesamte Zeit bei den fünf Jahren mit.
Was sonst noch wichtig ist:
- Anders als dies manchmal behauptet wird, besteht für Unionsbürger*innen in den allermeisten Fällen natürlich schon vor fünf Jahren ein Leistungsanspruch. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer*in, die Fortgeltung des Arbeitneh-mer*innenstatus, ein Freizügigkeitsrecht als Familiena-ngehörige oder ein Aufenthaltsrecht wegen des Schul-besuchs der Kinder gem. Art. 10 VO 492/2011 erfüllt ist. In der Broschüre „Ausgeschlossen oder privilegiert? Zur aufenthalts- und sozialrechtlichen Situation von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen“ des Paritätischen Gesamtverbands gibt es dazu ausführliche Informationen.
- Wenn ein Daueraufenthaltsrecht erfüllt ist, besteht ebenfalls ein Leistungsanspruch. Das Daueraufent-haltsrecht entsteht automatisch, wenn man sich als EU-Bürger*in oder Familienangehörige fünf Jahre lang in Deutschland aufgehalten hat und fünf Jahre lang einen materiellen Freizügigkeitsgrund erfüllt hat. Hier können eine ganze Reihe Freizügigkeitsgründe relevant sein (z. B. als Arbeitnehmer*in, nach unfreiwilligem Verlust der Ar-beit, Arbeitsuche, als Familienangehörige usw.). Anders als oft behauptet zählen keineswegs nur die Zeiten, in denen eine Arbeit ausgeübt oder in denen keine Leistun-gen vom Jobcenter bezogen werden! Und in bestimmten Fällen – insbesondere bei Erwerbsunfähigkeit oder Ein-tritt ins Rentenalter – entsteht das Daueraufenthaltsrecht schon vor fünf Jahren. Das Daueraufenthaltsrecht ent-steht automatisch. Das Jobcenter muss in eigener Verant-wortung prüfen, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen oder vorgelegen haben – auch wenn die ABH (noch) keine Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht ausge-stellt haben sollte. Ausführliche Informationen gibt e sin der Arbeitshilfe des Paritätischen „Sicher ist sicher. Das Daueraufenthaltsrecht für Unionsbürger*innen und ihre Familienangehörigen“.
- Wenn nur ein Leistungsanspruch aufgrund des fünfjäh-rigen gewöhnlichen Aufenthalts besteht, muss das Job-center dies der Ausländerbehörde melden (§ 87 Abs. 2 Nr. 2a AufenthG). Die Ausländerbehörde kann dann im Rah-men einer Ermessensentscheidung den Verlust des Frei-zügigkeitsrechts feststellen, sofern kein anderer Freizü-gigkeitsgrund erfüllt ist. Eine Meldung an die ABH durch das Jobcenter ist demgegenüber unzulässig und buß-geldbewehrt, wenn die Person über ein anderes Freizü-gigkeitsrecht oder das Daueraufenthaltsrecht verfügt. Ausführliche Informationen zur Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörde gibt es in der Arbeitshilfe: „SGB II / SGB XII-Anträge von Unionsbürger*innen: Meldepflichten an die Ausländerbehörde“.
(Quelle: ggua.de)