Eigentlich ist die Entscheidungsgrundlage für Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Gaza klar: Wenn in einem internatio-nalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt Leib und Le-ben von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt individuell und ernsthaft bedroht sind, und für sie keine Möglichkeit be-steht, sich sicher in einen anderen Teil des Herkunftslandes zu begeben und dort vor diesem Konflikt sicher zu sein, dann ist ihnen in einem deutschen Asylverfahren nach dem Asylgesetz (AsylG) der sogenannte subsidiäre Schutz zu gewähren (§ 4 AsylG in Verbindung mit § 3e AsylG).
Das Bundesverwaltungsgericht ist in seiner hierzu bislang er-gangenen Rechtsprechung von einem »body-count«-Ansatz ausgegangen. Demnach setzt eine »ernsthafte individuelle Be-drohung des Lebens oder der Unversehrtheit« voraus, dass es eine Mindestschwelle von zivilen Opfern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung geben muss. Das Bundesverwaltungs-gericht hat zwar den Mindestwert nie exakt beziffert, aber in einem Urteil zum Herkunftsland Irak einmal ausgeführt, dass jedenfalls eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 pro Jahr (circa 0,12 Prozent), verletzt oder getötet zu werden, weit unter der erforderlichen Mindestgrenze liege. Aber zugleich hat es fest-gestellt, dass der subsidiäre Schutz zweifelsfrei bei einer außergewöhnlichen Situation zu gewähren sei, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass prak-tisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausge-setzt wäre.
Die Lage in Gaza ist ein trauriges Beispiel für eine solche Situ-ation. Nicht nur besteht für jede in Gaza lebende Person rund um die Uhr eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit, früher oder später Opfer der Angriffe aus der Luft oder am Boden zu wer-den. Es besteht darüber hinaus für die Zivilbevölkerung – mit Ausnahme weniger schwer Verletzter, denen Ägypten die Ein-reise gewährt – keinerlei Möglichkeit, sich den Kampfhand-lungen im Gazastreifen zu entziehen. Innerhalb des Gazastrei-fens gibt es keinen sicheren Ort.
Dies macht auch das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Lan-des Sachsen-Anhalts in einer Entscheidung deutlich. In sei-nem Beschluss bereits am 20. November 2023 – und damit zeitlich noch relativ nahe am Beginn des Krieges – wies es eine Berufung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen die Zuerkennung subsidiären Schutzes für einen aus Gaza stammenden Palästinenser zurück.
In einer noch aktuelleren Entscheidung des Verwaltungsge-richts Sigmaringen vom 07. März 2024, in dem dieses ebenfalls das BAMF anweist, einem palästinischen Geflüchteten den subsidiären Schutz zuzusprechen, heißt es: »Nach dem Terror-angriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 hat der israelische Ministerpräsident den Kriegszustand erklärt. Seither ist der Gaza-Streifen Ziel einer breit angelegten israelischen Militär-operation mit Bombardements aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzähligen zivilen Opfern, massiver Zer-störung der zivilen Infrastruktur und einer Binnenvertreibung von ca. 85 % der Bevölkerung des Gaza-Streifens einhergeht. Zivilisten können im Gaza-Streifen nicht in Sicherheit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grundlage von seitens des Hamas-Gesundheitsministeriums zur Verfü-gung gestellten Daten – mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 70.000 Verletze unter den überwiegend zivilen palästinen-sischen Opfern des Krieges gezählt worden […]. In einem Zeit-raum von ca. fünf Monaten sind damit ca. 4,5 % der Bevölke-rung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Einwohner) getötet oder verletzt worden, mehrheitlich dabei Zivilisten. Und auch die Binnen-vertreibung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung macht die Betroffenen zu zivilen Konfliktopfern«.
Aktuell droht jederzeit der Beginn der selbst von den USA als engstem Verbündeten Israels abgelehnten Bodenoffensive im Süden des Gazastreifens in und um Rafah. Dorthin waren nach der Offensive im Norden zu Beginn des Konflikts etwa 1,4 Mil-lionen Menschen geflohen. Es ist zu erwarten, dass die Offen-sive weiter zu einer immensen Zahl ziviler Opfer führen wird.
Doch nicht nur die kriegerischen Auseinandersetzungen als solche stellen eine ernsthafte Bedrohung der Unversehrtheit und des Lebens der Menschen in Gaza dar, sondern auch die katastrophale humanitäre Situation, die das Verwaltungsge-richt Sigmaringen in der zitierten Entscheidung ebenfalls als entscheidungsrelevant anführt:
»Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehba-re Zeit unbeschreiblich katastrophal. Im Gaza-Streifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zer-stört und mehr als 290.000 beschädigt. Die Bevölkerung ist komplett von – derzeit völlig unzureichenden – Hilfslieferun-gen abhängig. In der Integrated Food Security Phase Classifi-cation (IPC-Skala) wird für alle 2,2 Mio. Einwohner des Gaza-Streifens derzeit eine akute Nahrungsmittel- und Lebensun-terhaltskrise (Phase 3) festgestellt, für 1,17 Mio. Menschen sogar Phase 4 (humanitärer Notfall) und für mehr als eine halbe Million Menschen Phase 5 (Hungersnot / humanitäre Katastrophe). Nur eine von drei Wasserleitungen aus Israel ist in Betrieb, allerdings nur mit 47 % ihrer Kapazität. 83 Prozent der Grundwasserbrunnen sind außer Betrieb, 132 Brunnen sind zerstört oder beschädigt. Zwei der drei großen Meerwas-seraufbereitungsanlagen sind nur teilweise funktionsfähig. Das Abwassersystem ist zusammengebrochen. Nurmehr 12 Krankenhäuser funktionieren in sehr eingeschränktem Um-fang. Es gibt keinen elektrischen Strom […]«.
Die humanitäre Situation verschlechtert sich Tag für Tag. Seit Wochen warnen Hilfsorganisationen, dass Hilfsabwürfe aus der Luft oder vereinzelte Lieferungen per Schiff eine Hungers-not im Gazastreifen nicht abwenden können. Ein am 18. März 2024 veröffentlichter Bericht mehrerer UN-Organisationen be-stätigte, dass von den rund zwei Millionen Menschen im Gaza-streifen derzeit 677.000 Menschen unter »katastrophalem Hunger« leiden – das ist die höchste Warnstufe in der dem Bericht zugrunde liegenden IPC-Analyse von Nahrungskrisen (Integrated Food Security Phase Classification). Binnen Wo-chen könnte die Zahl auf mehr als eine Million steigen, eine Hungersnot könne im abgeriegelten Norden schon ab März eintreten. US-Außenminister Blinken betonte etwa zeitgleich, dass »100 Prozent der Bevölkerung in Gaza unter schwerwie-gender akuter Ernährungsunsicherheit« litten. »Das ist das erste Mal, dass eine ganze Bevölkerung so eingestuft wurde«.
Vor diesem Hintergrund völlig unverständlich ist: Trotz der nationalen sowie internationalen Rechtsprechung und trotz der sich weiterhin zuspitzenden Gefahren durch Kampfhand-lungen und Hunger hat das BAMF die Asylverfahren palästi-nensischer Schutzsuchender seit dem 9. Januar 2024 auf Eis gelegt. Die Behörde begründet das damit, dass aufgrund des Krieges die Lage vor Ort zu unübersichtlich sei, um die Gefähr-dung der Schutzsuchenden im Fall einer Rückkehr valide zu bewerten (siehe die Antwort des Innenministeriums auf eine Frage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger, S. 19575) und beruft sich dabei auf § 24 Absatz 5 AsylG. Dieser Absatz ermög-licht, Asylverfahren auszusetzen, wenn »im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage« besteht. Normalerweise gilt nach Absatz 4 des gleichen Paragrafen, dass das BAMF in der Regel innerhalb von sechs Monaten – bei besonderen, tat-sächlich oder rechtlich komplexen Fragen oder einer beson-ders großen Anzahl von Asylanträgen spätestens innerhalb von 15 Monaten – über Asylanträge zu entscheiden hat.
Jedoch ist die Situation in Gaza bei der Frage nach der Zuer-kennung subsidiären Schutzes keineswegs »ungewiss«, son-dern im Gegenteil so klar, wie wohl nie seit Bestehen dieses Schutzstatus. Damit liegen die Voraussetzungen für eine län-gerfristige Aussetzung der Asylverfahren keineswegs vor. Das drängt den Verdacht auf, dass das BAMF lediglich auf Zeit spielt, um nach Beendigung der Kriegshandlungen die offenen Asylanträge abzulehnen. Der Verweis auf § 24 Absatz 5 AsylG wäre in diesem Fall missbräuchlich.
In einer Entscheidung vom 13. März 2024 hat das Verwaltungs-gericht Hannover zu Recht darauf hingewiesen, dass im Falle sich über Monate hinweg intensivierender Kämpfe (hier im Su-dan) nicht von einer »ungewissen Lage« im Sinne des § 24 Ab-satz 5 AsylG gesprochen werden kann. In der Entscheidung wird in aller Deutlichkeit hervorgehoben:
»Die Möglichkeit der Aussetzung der Entscheidung wegen vorübergehend ungewisser Lage im Herkunftsstaat dient nicht dazu, die Realisierung absehbar bestehender Anerkennungs-ansprüche zu verhindern«.
Das Gleiche gilt natürlich auch für die Situation in Gaza, die von nunmehr über fünfmonatigen intensiven Kampfhand-lungen geprägt ist. Die Untätigkeit des BAMF ist dabei nicht nur rechtswidrig, sondern sie ist auch deswegen nicht nach-vollziehbar, als es sich bei den Schutzsuchenden aus Gaza nur um ein paar wenige hundert Menschen handeln kann: Ende Februar 2024 gab es insgesamt 1.108 offene Asylverfahren beim BAMF, davon 1.058 Erst- und 50 Folgeverfahren. Wohlge-merkt sind das sämtliche Asylverfahren von Palästinen-ser*innen aus allen palästinensischen Gebieten, nicht nur der-jenigen aus Gaza – also auch von Schutzsuchenden aus der Westbank oder Ostjerusalem (eine Statistik von Asylverfahren nur von Palästinenser*innen aus Gaza existiert nicht).
Es lässt sich anhand dieser Zahlen daher nicht feststellen, aus welchen Gebieten die Geflüchteten jeweils stammen, aber es ist sicher, dass nur ein Teil dieser Personen aus Gaza stammt.
PRO ASYL fordert das BAMF auf: Die Prüfung der Asylanträge von aus Gaza stammenden Palästinenser*innen muss unver-züglich wieder aufgenommen werden und dem gesamten Per-sonenkreis muss Schutz gewährt werden – wenn nicht aus individuellen Gründen die Flüchtlingseigenschaft anerkannt werden kann, ist wegen der alle Menschen in Gaza betreffen-den ernsthaften Bedrohung des Lebens und der Unversehrt-heit der subsidiäre Schutz zu gewähren.
Betroffenen Schutzsuchenden rät PRO ASYL, nach Ablauf der Regelentscheidungsfrist von sechs Monaten nach Asylantrag-stellung eine Untätigkeitsklage nach § 24 Absatz 4 AsylG zu erheben. Hierfür sollten sich Betroffene an kompetente Bera-tungsstellen und Rechtsanwält*innen wenden.
(Quelle: proasyl.de)