Ein achtjähriges Mädchen, das sich am Flughafen im Polizei-transporter festklammert. Nachfahr:innen von NS-Opfern. Eine in Deutschland geborene und aufgewachsene junge Rom-ni mit einer geistigen Behinderung. Ein Oppositioneller, der nach seiner Abschiebung nach Tadschikistan zu sieben Jahren Haft verurteilt wird. Ein suizidgefährdetes Folteropfer, das wo-chenlang in Abschiebehaft gesteckt wird. Ein junger Mann, dem die Ausländerbehörde jahrelang die Erlaubnis für eine Ausbildung verweigert und ihn zur „freiwilligen Ausreise“ drängt, damit er „auf dem korrekten Weg“ mit einem Visum wieder einreist, um seine Ausbildung beginnen zu dürfen. Sie stehen beispielhaft für die tausenden Menschen, die in den vergangenen Jahren in das Visier nordrhein-westfälischer Aus-länderbehörden gerieten. Das vom Projekt Abschiebungsre-porting NRW und dem Komitee für Grundrechte und Demokra-tie e.V. gemeinsam herausgegebene Buch „Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung, Entrechtung. Widerstän-de.“ stellt die Menschen in den Mittelpunkt und legt die nord-rhein-westfälische Abschiebepraxis offen.
Auf 234 Seiten analysieren Sebastian Rose und Sascha Schießl Abschiebungen als politische Praxis in Nordrhein-Westfalen und zeigen die Kämpfe und Widerstände gegen Abschiebun-gen auf. Sie beleuchten die verschiedenen behördlich zustän-digen Akteur:innen und benennen, wie und wer abgeschoben wird. Damit bringen sie Licht in das Dunkel der nordrhein-westfälischen Abschiebepraxis, die bewusst so angelegt ist, möglichst im Verborgenen zu bleiben. Dabei ist in NRW in den letzten Jahren ein breiter Behördenapparat aus Zentralen Aus-länderbehörden und Regionalen Rückkehrkoordinations-stellen entstanden und erweitert worden, für den das Land NRW viel Geld ausgibt.
Das Buch zeigt, dass der politisch inszenierte hohe Abschiebe-druck und die vielfältigen Gesetzesverschärfungen in der Pra-xis zu härteren, nicht selten auch rechtswidrigen Abschiebun-gen führen. Dabei kann, wenn der politische Wille vorhanden ist, jede Abschiebung gestoppt werden. Der oft schmale Grad zwischen Abschiebung und Bleiberecht – heute Abschiebe-haft, morgen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – zeigt bei-spielhaft die Willkür der deutschen Abschiebepolitik auf. Insgesamt sind in dem Buch rund 110 Fälle von drohenden, versuchten und vollzogenen Abschiebungen durch etwa 50 der 81 nordrhein-westfälischen kommunalen Ausländerbe-hörden sowie der fünf teils allein zuständigen, teils unterstü-tzend agierenden Zentralen Ausländerbehörden erfasst und dokumentiert – mal knapp angerissen, mal sehr umfassend nachgezeichnet.
Britta Rabe, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Unser Projekt „Abschiebungsreporting NRW“ interveniert in und dokumentiert vollzogene Abschiebungen aus Nordrhein-Westfalen und macht damit ein System öffentlich, dass Men-schen – oft über Jahre – in Angst hält, mit Willkür und Gewalt arbeitet – und häufig geltendes Recht übertritt. Das neue Buch schafft eine Gegenöffentlichkeit zum herrschenden Diskurs und stellt mit vielen Hintergrundinformationen Transparenz über das Abschiebesystem her.“
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW:
„Jede einzelne Abschiebung betrifft Menschen, mit je eigenen und individuellen Geschichten. Unser Buch stellt sie in den Mittelpunkt. Während Politik und Behörden allzu oft sugge-rieren, es würden vorwiegend „Straftäter:innen“ oder „Gefähr-der“ abgeschoben werden, treffen Abschiebungen tatsächlich vor allem Familien mit Kindern, Menschen in Arbeit und Aus-bildung, unter ihnen auch Pflegekräfte, Angehörige von Min-derheiten, Menschen mit psychischen oder körperlichen Er-krankungen, Schwangere und Rentner:innen. Abgeschoben werden auch Menschen, die in Deutschland geboren und auf-gewachsen sind."
Bis heute fehlt in Nordrhein-Westfalen ein die menschenrecht-lichen Minimalstandards umfassender Erlass der Landesregie-rung für den Abschiebevollzug völlig. Unsere Analyse zeigt, dass Familientrennungen daher Alltag sind, Abschiebungen aus stationären Einrichtungen sind keine Einzelfälle. Auch das Instrument der Abschiebehaft wird massenweise angewendet, auch vulnerable und schwer kranke Menschen bleiben davon nicht verschont.
All diese Abschiebungen sind keine „Einzelfälle“ oder „Aus-nahmen“, sondern eine seit vielen Jahrzehnten bestehende, strukturelle Praxis und das Ergebnis einer verhärteten Ab-schiebepolitik.“
Prof. Dr. jur. Dorothee Frings, Mitglied im Beirat des Abschie-bungsreporting NRW:
„Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über den Abschie-bevollzug in Nordrhein-Westfalen und rüttelt wach. Es zeigt auf, wie sehr Rechte eingeschränkt und verletzt werden. So bleiben etwa die Belange von Kindern vielfach unberück-sichtigt. Nordrhein-Westfalens Behörden werden ihren Ver-pflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention nicht ge-recht.“
Einzelne Kapitel des Buches widmen sich der Frage, wie der Staat Familien mit Kindern und Jugendlichen oder erkrankte Menschen abschiebt. Die Behörden organisieren dabei Ab-schiebungen so, dass selbst schwerst erkrankte Menschen nicht verschont bleiben. Sie geben externe Gutachten in Auf-trag, organisieren fit-to-fly-Bescheinigungen und schaffen auch alte und vulnerable Menschen systematisch außer Lan-des. Ein Kapitel widmet sich zudem der Abschiebungen von Rom:nja, die 80 Jahre nach dem Völkermord sehr regelmäßig und mit voller Härte aus Deutschland abgeschoben werden. Die Forderungen der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die Abschiebun-gen von Rom:nja vollständig zu beenden, finden in Nordrhein-Westfalen kein Gehör, sind nicht einmal Teil der Diskussion.
Weitere Kapitel zeigen auf, wie Oppositionelle und Angehörige von Minderheiten sowie konvertierte Christ:innen durch Ab-schiebungen in große Gefahr geraten. Auch ein Arbeitsplatz schützt nicht pauschal vor Abschiebung, wie ein weiteres Ka-pitel systematisch darstellt.
Die Autoren analysieren, dass der Staat bei weitem nicht nur abgelehnte Schutzsuchende abschiebt. Vielmehr haben rund rund 40 Prozent der von Abschiebung bedrohten Menschen überhaupt kein Asylverfahren durchlaufen. Gewaltvolle Ab-schiebungen können genauso Studierende mit zu schlechten Leistungen oder einer Erkrankung betreffen, die ihr Aufent-haltsrecht verloren haben. Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, der Grundlage ihrer Aufenthaltserlaubnis ist, sind ebenso betroffen wie Menschen, die ihr Tourist:innenvisum überziehen und „ausreisepflichtig“ werden.
Das Buch wird in den kommenden Wochen bei verschiedenen Veranstaltungen und Anlässen vorgestellt und diskutiert:
Mi., 05. Juni 2024, 19 Uhr, Ratingen, Caritas Kreis Mettmann (FORUM.Lotsenp. Düsseldorfer Straße 38)
Do., 13. Juni 2024, 17 Uhr, Düsseldorf, Multikulturelles Forum e.V. (Erkrather Str. 343)
Mo., 24. Juni 2024, Berlin, Arbeitsforum beim Flüchtlingsschutzsymposium (Französische Friedrichstadtkirche)
Sa., 29. Juni 2024, 11-16 Uhr, Bochum, Flüchtlingsrat NRW e.V. (Stadtteilzentrum Q1, Halbachstr. 1)
Mo., 01. Juli 2024, Detmold, Flüchtlingshilfe Lippe e.V.
Literaturangaben:
Zu den Autoren:
SEBASTIAN ROSE ist seit Mitte August 2021 Referent im Projekt Abschiebungsreporting NRW in Köln. Von 2014 bis 2021 arbei-tete er als Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V., davon viereinhalb Jahre als Referent der Geschäftsführung.
SASCHA SCHIESSL ist Historiker. 2016 erschien seine Disser-tation »Das Tor zur Freiheit‘. Kriegsfolgen, Erinnerungspolitik und humanitärer Anspruch im Lager Friedland (1945-1970)«. Von 2017 bis 2021 arbeitete er als Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Ge-schichte von Flucht, Asyl und Migration, die europäische Ab-schottungspolitik und die Institution Lager.
Hintergrund „Abschiebungsreporting NRW“:
Das Projekt „Abschiebungsreporting NRW“ hat im August 2021 seine Arbeit aufgenommen. Die Dokumentationsstelle macht besonders inhumane Aspekte der Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen an Einzelfällen öffentlich und nimmt besondere Härten bei Abschiebungen in den Blick. Ausgangspunkt der Arbeit sind gut recherchierte einzelne Ab-schiebungen, auf Basis von Gesprächen mit Betroffenen und Unterstützer:innen. Träger ist das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. mit Sitz in Köln.
(Quelle: abschiebungsreportimg.de)