Ausgerechnet zum heutigen Weltflüchtlingstag beschließt die Konferenz der Ministerpräsidenten, schutzsuchende Men-schen zukünftig per Bargeldentzug zu gängeln. Der auf Vor-schlag der Länder Niedersachsen und Hessen getroffene Be-schluss der Ministerpräsident:innenkonferenz, die sog. „Be-zahlkarte“ restriktiv zu gestalten und eine Bargeldauszahlung in Höhe von höchstens 50 € pro Person und Monat zu ermög-lichen, stößt beim Flüchtlingsrat Niedersachsen auf scharfen Protest:
„Dieser Beschluss ist ein Votum für eine Rückkehr zu der von uns überwunden geglaubte Politik der Demütigung und Aus-grenzung von Geflüchteten“, kommentiert Claire Deery, Vor-sitzende des Flüchtlingsrats. „Lagerunterbringung, Sachleis-tungen und Bargeldentzug, das hatten wir alles schon einmal. Sollen Schutzsuchende in Deutschland wieder „abgeschreckt“ werden?“
Besonders empört ist der Flüchtlingsrat über die Tatsache, dass der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil den MPK-Beschluss gegen Widerstände in seiner Partei und ohne eine Beteiligung des grünen Koalitionspartners im Alleingang durchgesetzt hat, obwohl die Koalitionsvereinbarung zwi-schen SPD und Grünen ihn auf eine andere Politik verpflichtet hätte: Im Koalitionsvertrag kündigt die niedersächsische Lan-desregierung an, „Rassismus mit aller Kraft“ zu bekämpfen, und verspricht, „dass alle ankommenden Geflüchteten in Nie-dersachsen gleich behandelt werden und ihnen möglichst schnell ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird.“
Sollte der Beschluss der MPK umgesetzt werden, hat dies in der Praxis für die Betroffenen viele Probleme und Schwie-rigkeiten zur Folge: Einkäufe in Second-Hand-Läden, auf Floh-märkten oder kleinen Läden werden nicht oder nur sehr be-schränkt möglich sein. Für Schulmaterialien oder die Klassen-fahrt der Kinder, ein Eis in der Stadt, die Nutzung einer öffent-lichen Toilette oder ähnliche Alltagssituationen fehlt Bargeld. Ein Deutschlandticket, eine Vereinsmitgliedschaft, die Bezah-lung des Anwalts oder auch eines Bußgeldes, all dies wird mit der Bezahlkarte kompliziert und schwierig, möglicherweise unmöglich. Wenn die Betroffenen für jede Zahlung, die das 50-Euro-Taschengeld übersteigt und sich mit der Bezahlkarte nicht realisieren lässt, Anträge bei den Sozialämtern stellen müssen, ist das entwürdigend für die Geflüchteten und unnö-tig belastend für die Verwaltung.
Wir fordern die Grünen auf, diesen Bruch der Koalitionsver-einbarung nicht hinzunehmen. Die Grünen haben frühzeitig klar gemacht, dass sie eine diskriminierungsfreie Umsetzung der Bezahlkarte und die „Social Card“ aus Hannover als Mo-dell nehmen wollen. Es stellt eine beispiellose Brüskierung des Koalitionspartners dar, wenn der Ministerpräsident ohne Rücksicht auf Verluste „durchregiert“ und auf Bundesebene Zusicherungen macht, die den auf Landesebene getroffenen Verabredungen offenkundig widersprechen. Welche Glaub-würdigkeit hat die angekündigte Umsetzung eines Landes-Antidiskriminierungegesetzes, welche Glaubwürdigkeit hat ein Teilhabe- und Partizipationsgesetz, wenn vorher die Teilhabe von Geflüchteten durch eine diskriminierende Bezahlkarte eingeschränkt wird?
Die SPD fordern wir auf, sich wieder auf die Grundwerte der Partei zu besinnen und sich an die Verfolgten in der eigenen Parteigeschichte zu erinnern: Schäbige Schikanen und Dis-kriminierungen gegen Arme und Verfolgte sind keine pro-gressive Politik. Die Umsetzung der Bezahlkarte wird in Han-nover im Verordnungswege durch das niedersächsische In-nenministerium geregelt, Innenministerin Behrens (SPD) ist dafür allein zuständig. Wir fordern die SPD auf, den rechts-populistischen Kampagnen gegen Geflüchtete nicht hinter-herzulaufen, sondern Solidarität zu zeigen und die Rechte und Würde von Geflüchteten zu verteidigen.
Anhang: Kurzer historischer Rückblick
Die Demütigung von Geflüchteten durch Restriktionen bei der Leistungsgewährung hat in Deutschland und Niedersachsen eine lange Tradition: Nach Einführung eines gesonderten Leis-tungsrechts für Asylsuchende im Jahr 1993 kam es – länder-spezifisch unterschiedlich und zeitversetzt – in allen Bundes-ländern zur Einführung von Maßnahmen, die zum Ziel hatten, Schutzsuchenden durch die Ausgabe von „Sachleistungen“ und „Gutscheinen“ das Leben in Deutschland möglichst un-attraktiv zu machen. Gleichzeitig ging die Schere zwischen Leistungen für Asylsuchende und Hartz 4 – Leistungen immer weiter auseinander. Erklärtes Ziel dieser Politik war es, Schutz-suchende von einer Inanspruchnahme des Asylrechts mög-lichst abzuschrecken. Diese Politik endete erst, als das Bun-desverfassungsgericht sie am 18. Juli 2012 in einer Aufsehen erregenden Entscheidung für verfassungswidrig erklärte und beschied: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfG, Urt. v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, Rn. 95).
2014 hat Rot-Grün dann die Landtagswahl in Niedersachsen mit dem Versprechen gewonnen, endlich menschlich mit Ge-flüchteten umzugehen. Wir wollen die Härten bei den Abschie-bungen rausnehmen, wir wollen Sachleistungen und Gut-scheine abschaffen, wir wollen den Menschen ihre Würde zu-rückgeben, so die Landesregierung damals (siehe z.B. Presse-erklärung vom 23.09.2014). Nach und nach wurde die diskri-minierende Gutscheinpraxis in fast allen Bundesländern ab-geschafft. Politiker:innen und Verwaltungen erklärten die Politik der Abschreckung und Diskriminierung für gescheitert und bemühten sich um die Implementierung einer „Will-kommenskultur“. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass zehn Jahre später neue Diskriminierungen eingeführt werden sollen.
(Quelle: nds-fluerat.org)