· 

Constantin Hruschka im Verfassungsblog: Zur Unionsrechtswidrigkeit von Leistungsausschlüssen in Dublin-Verfahren

Bild: pixabay.com
Bild: pixabay.com

Mit dem am 31. Oktober 2024 in Kraft getretenen „Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asyl-systems“ (BGBl 2024 I Nr. 332 – sog. Sicherheitspaket) wurde unter anderem beschlossen,  Personen, die einen Dublin-Bescheid mit einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG erhalten haben, von Leistungen nach dem AsylbLG auszuschließen. Voraussetzung ist da-bei nicht die Unanfechtbarkeit der Entscheidung, sondern lediglich die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) festzustellende rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise.

 

Neu lautet der für die im Folgenden behandelte Regelung relevante Teil von § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG:

 

(4) 1 Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nummer 5,

  1. […]
  2. deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist,

haben keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz.

 

Die rechtlich fundierte und harsche Kritik in der Sachver-ständigenanhörung (insbesondere hier und hier) und in anderen Foren hat den Gesetzgeber nicht daran gehin-dert, diese evident unionrechtswidrige Regelung zu be-schließen. Folge einer evident unionsrechtswidrigen Re-gelung, die individuelle Rechte beschränkt, ist die Ver-pflichtung der Behörden und Gerichte, eine solche Rege-lung unangewendet zu lassen. Aus diesem Grund soll es im Folgenden nicht um die (berechtigten) verfassungs-rechtliche Einwände gehen, sondern aufgezeigt werden, dass es keine europarechtliche Grundlage für die Neu-regelung gibt.

 

Der EuGH hat sich bisher in zwei Entscheidungen mit der Frage beschäftigt, welche Leistungen Asylsuchende in Dublin-Verfahren erhalten müssen. Im ersten Verfahren (CIMADE und GISTI) ging es im Kern um eine französi-sche Regelung, die vorsah, dass ab der Einleitung eines Dublin-Verfahrens keine Leistungen nach der Aufnahme-richtlinie gezahlt werden sollten. Die beiden namensge-benden Organisationen, die im Asylbereich tätig sind, hat-ten gegen das entsprechende Rundschreiben einen An-trag auf Nichtigerklärung beim Conseil d’Etat gestellt. Letzterer legte dem EuGH diesbezüglich mehrere Vorlage-fragen vor. In der Entscheidung stellt der EuGH klar, dass die Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie nicht entfallen, so lange die Person sich noch als asylsuchende Person im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (also im Dublin-Raum) befindet. Der Gerichtshof führt zur Begründung aus, dass asylsuchende Personen „nicht nur im Hoheits-gebiet des Mitgliedstaats verbleiben dürfen, in dem der Asylantrag geprüft wird, sondern auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde“ (Rn. 48). Dies gelte nicht nur für die Dauer des Konsulta-tionsverfahrens mit dem anderen Mitgliedstaat, sondern auch nach einer nach nationalem Recht getroffenen Über-stellungsentscheidung; namentlich ende „die Verpflichtung des Mitgliedstaats, der mit einem an seiner Grenze oder in seinem Hoheitsgebiet gestellten Asylantrag befasst ist, die in der [Aufnahmerichtlinie] vorgesehenen Mindestbedin-gungen für die Aufnahme von Asylbewerbern einem Asyl-bewerber zu gewähren […] erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers durch den ersuchenden Mitgliedstaat“ (Rn. 58).

 

In der zweiten Entscheidung zu Aufnahmebedingungen in Dublin-Verfahren, einem irischen Fall (K.H. und andere), ging es um die Frage, ob Personen, die einen Asylantrag gestellt haben und sich noch im Dublin-Verfahren befin-den, nach neun Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt ge-währt werden muss, wie dies Art. 15 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU vorsieht. Die Besonderheit des Falles lag darin, das Irland nicht an die Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU (AsylVerfRL) gebun-den ist und das vorlegende Gericht daher die Frage vor-gelegt hatte, ob die AsylVerfRL – die in Art. 9 das Recht auf Verbleib während des Asylverfahrens enthält – auch für die Auslegung einer nationalen Regelung heranzuzie-hen ist, wenn die Richtlinie in dem betreffenden Mitglied-staat gar nicht anwendbar ist. Der EuGH macht in der Ent-scheidung deutlich, dass Begriffe im Europarecht generell einheitlich auszulegen sind und daher Irland in diesem Kontext auch die Regelungen der AsylVerfRL bei der Aus-legung der nationalen Vorschrift heranzuziehen hat. Das Recht zum Verbleib bis zur inhaltlichen Entscheidung, das sich aus der AsylVerfRL ergibt, ist also auch bei der Ausle-gung der Aufnahmerichtlinie zu beachten.

 

Ein Ausschluss von Personen, die ein Recht zum Verbleib haben, von Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie kommt nicht in Betracht, wie der EuGH in beiden Ent-scheidungen festhält. Gleichzeitig stellt er klar, dass Art. 15 Abs. 1 der aktuellen Aufnahmerichtlinie (zukünftig Art. 17 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie-Neu) „einer nationalen Rege-lung entgegensteht, die einen Antragsteller vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil ihm ge-genüber eine Überstellungsentscheidung nach der Dub-lin‑III-Verordnung ergangen ist“ (Rn. 73). Der EuGH macht also deutlich, dass nicht nur ein Ausschluss von den Leis-tungen nach der Aufnahmerichtlinie, sondern sogar ein Ausschluss vom Arbeitsmarktzugang, der als im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährter Vorteil anzusehen ist, als direkte Folge einer Dublin-Überstellungsentschei-dung rechtswidrig ist.

 

In diesem Kontext hat sich das Bundessozialgericht be-reits die Frage gestellt, ob die bisher in § 1a Abs. 7 AsylbLG vorgesehenen Anspruchseinschränkungen mit den europarechtlichen Vorgaben vereinbar sind und in die-sem Kontext dem EuGH im Juli 2024 Fragen zur Vorab-entscheidung vorgelegt. In dieser Hinsicht ist die Neure-gelung auch als ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Bundessozialgericht anzusehen.

 

Festzuhalten ist, dass nach der aktuellen Rechtslage ein Ausschluss von den Leistungen nach dem AsylbLG für Personen nach einer Dublin-Entscheidung europarechts-widrig ist.

 

Rechtlich kann in der Regelung auch keine (vorgezogene) Umsetzung der neuen Aufnahmerichtlinie 2024/1346 gesehen werden, da der neue Art. 21 der Richtlinie eben-falls keinen Leistungsausschluss erlaubt, sondern Asyl-suchende lediglich auf Leistungen in dem Staat verweist, in dem sich die jeweilige Person „gemäß der Verordnung (EU) 2024/1351 aufzuhalten“ hat. Die detaillierten Rege-lungen zu den Aufenthaltsverpflichtungen nach Art. 17 der Verordnung (EU) 2024/1351 (sog. Asyl- und Migrations-managementverordnung – AMM-VO) gelten erst ab dem 1. Juli 2026 (vgl. Art. 85 Abs. 2 AMM-VO). Somit kann ein Leistungsausschluss aktuell nicht auf diese Regelungen gestützt werden, sondern es gilt weiterhin der einheitlich auszulegende Begriff des „Antragstellers“ nach den aktuell geltenden Rechtsakten namentlich der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, der Dublin-Verordnung und der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU.

 

Jedenfalls solange die AMM-VO und die Asylverfahrensverordnung nicht gelten, ist ein Leistungs-ausschluss europarechtlich ausgeschlossen, da die betrof-fenen Personen als „Antragsteller“ mit einem Recht auf Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU anzu-sehen sind.

 

In der Praxis sind die Behörden und Gerichte in Deutsch-land europarechtlich verpflichtet, die Regelung unange-wendet zu lassen, um die weitere effektive Geltung der unionsrechtlichen Vorgaben sicherzustellen. Der EuGH hat bereits seit langem klargestellt, dass ein zuständiges Gericht „für die volle Wirksamkeit“ der unionsrechtlichen Normen Sorge zu tragen hat und „erforderlichenfalls jede — auch spätere — entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet“ lassen muss und nicht „die vorherige Be-seitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem We-ge oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten“ muss oder darf (so der Tenor in EuGH Simmenthal II). Derselben Verpflich-tung unterliegen rechtsanwendende Behörden. Da § 1a Abs. 7 AsylbLG mit der Neuregelung aufgehoben wurde, sind bei einem Verzicht auf den Leistungsausschluss – im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben – auch keine Leistungseinschränkungen mehr möglich, da dafür eine gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist eine für die effektive Durchsetzung und Wirksamkeit des Unionsrechts gute Nachricht, weil gegen die bisherige Regelung erhebliche unionsrechtliche Bedenken bestehen, wie auch die Vorlage aus Kassel an den EuGH deutlich macht.

 

Die Nichtanwendung der Neuregelung und eine schnelle Klärung durch den EuGH wären dementsprechend wün-schenswert. Angesichts der klaren Unionsrechtswidrigkeit des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG wäre die EU-Kommis-sion gehalten, rasch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, um Unklarheiten in der Praxis möglichst schnell aufzulösen. Aus politischer Sicht ist dagegen wahrscheinlicher, dass eine Klärung durch ein Vorabentscheidungsverfahren erfolgen muss.

 

Sollte eine Behörde – fälschlicherweise – zu dem Schluss kommen, die Regelung sei doch anzuwenden, ist für die Anwendung eine weitere Entscheidung des BSG aus dem Juli 2024 zu beachten, die die Bedeutung der Überstel-lungsfrist betont. Nach deren Ablauf geht die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland über und die Person darf – trotz Abschiebungsanordnung und Ausreisemög-lichkeit – nicht mehr überstellt werden. Im Terminsbericht zum diesem Verfahren B 8 AY 7/23 R hat das BSG fest-gehalten: „Der Ablauf der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung lässt nach Sinn und Zweck der Re-gelung die Möglichkeit zur Einschränkung von Leistungen entfallen.“ Dies gilt natürlich (erst recht) für einen Leis-tungsausschluss. Ein möglicher Ausschluss von Leistun-gen nach dem AsylbLG kommt dementsprechend nicht mehr in Frage, wenn die Überstellungsfrist abgelaufen ist.

Im Falle einer unionsrechtswidrigen Anwendung der neu geschaffenen Ausschlussregelung ist zusätzlich noch zu beachten, dass der EuGH in CIMADE und GISTI in Rn. 56 festgehalten hat, dass „die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen[stehen], dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asyl-antrags und vor seiner tatsächlichen Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird.“ Der Verweis auf Art. 1 GrCH gibt bereits Hinweise darauf, dass wohl auch ab der Geltung der AMM-VO ein Ausschluss von Leistungen nicht mit dem Unionsrecht ver-einbar sein wird. Nicht umsonst weist Art. 21 der Richtlinie (EU) 2024/1346 (neue Aufnahmerichtlinie) darauf hin, dass der dort vorgesehene Ausschluss „unbeschadet der Notwendigkeit, einen Lebensstandard im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich der Charta, und interna-tionalen Verpflichtungen sicherzustellen“, gilt. Eine reine Beschränkung auf Überbrückungsleistungen und ein Aus-schluss aus Unterkünften ist mit diesen klaren Vorgaben jedenfalls nicht vereinbar.

 

Da die unionsrechtlichen Vorgaben die Wahrung des Exis-tenzminimums vorschreiben, sind die rechtsanwendenden Behörden und Gerichte gefordert, für eine grundrechts-konforme Umsetzung der Neuregelung dergestalt zu sor-gen, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall ge-wahrt bleibt. Der Gesetzgeber hat diese Aufgabe jeden-falls durch seine unionsrechtswidrige Regelung nicht ein-facher gemacht, da er (weiteres) Sonderrecht außerhalb bzw. unterhalb des Sonderrechts des AsylbLG geschaffen hat, dessen Umsetzung Recht und Praxis vor große He-rausforderungen stellt. Umso wichtiger ist es, dass Behör-den und Gerichte für die volle Wirksamkeit der unions-rechtlichen Vorgaben Sorge tragen und die unionsrechts-widrige Neuregelung unangewendet lassen.

 

(Quelle: ggua.de)

 


Kontakt

Zuflucht - Ökumenische Ausländerarbeit e.V.

Berckstr. 27

28359 Bremen

 

Tel. : 0421 8007004

Fax: 0421 8356152

zuflucht@kirche-bremen.de

Newsletter

Unseren  monatlichen Newsletter können Sie hier abonnieren!

 

Spendenkonto

Zuflucht e.V.

IBAN: DE14 2905 0101 0011 8305 85

Swift-BIC SBREDE22XXX

 

Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und im Bremer Vereinsregister eingetragen unter VR 5198 HB